Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
vertrockneten Blumenkränzen. Und über allem lag dieser durchdringend süßliche Grabgeruch, den Ondragon schon aus dem Laden der Madame kannte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken angesichts der schrecklichen Schönheit dieser Spiegel. Er umklammerte die Waffe fester. Egal wo er hinblickte, sah er sich selbst, starrte auf sein eigenes Ich zurück mit geweiteten Augen und angespanntem Gesicht. Hundert Mal, tausend Mal, bis ins Unendliche vervielfältigt!
Oder war es sein Marassa, der dort aus dem Tor der Unterwelt zu ihnen herüberblickte?
Von irgendwoher hörte er ein stetig wiederkehrendes, dumpfes Geräusch an seine Ohren dringen, so als schlage jemand mit der Faust gegen ein Tor und verlange Einlass in die Welt der Lebenden. War es ein Dämon? Ondragon verdrängte diesen absurden Gedanken und warf der Madame durch einen der Spiegel einen vorwurfsvollen Blick zu.
Sie schaute vielbedeutend zurück. In ihren Augen leuchtete es geheimnisvoll auf, als sie mit ihren Lippen die Worte formte: „Ich … sehe … ihn.“
Wütend zischte Ondragon sie an: „Meinen Bruder? Hören Sie bloß auf damit! Dies ist …“
Schnell hob die Madame einen Zeigefinger vor ihren Mund. „Ich kann IHN sehen“, wisperte sie kaum hörbar. „Baron Samedi!“ Sie deutete in einen Spiegel, der gegenüber dem Raum hing, in den sie von draußen geblickt hatten.
Ondragon schluckte seinen bissigen Kommentar herunter und beugte sich zu ihr vor. Tatsächlich konnte man von dort aus einen Arm des Totenbarons sehen. Vorsichtig lehnte sich Ondragon wieder zurück und gab Rod mit wenigen Zeichen zu verstehen, was er vorhatte. Danach hob er seine Waffe, holte tief Luft und stürmte mit drei Sätzen den Raum.
Doch da war niemand. Der Baron war fort.
Nervös schauten sich die drei um.
Plötzlich verdunkelte sich das Licht im Raum und überall blitzten kleine rote Lichter auf. Auch die Totenschädel auf den Spiegelrahmen ließen ein hysterisches Gelächter erklingen wie in einer Geisterbahn.
Ondragon wirbelte um die eigene Achse und erstarrte. Was er erblickte, ließ ihn den angehaltenen Atem schlagartig ausstoßen. Er spürte, wie Rod gegen seinen Rücken prallte und ebenfalls furchtsam erstarrte.
Hinter ihnen stand hoch aufgerichtet die ehrfurchtgebietende Gestalt des Baron Samedi. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und spiegelte sich hundertfach verzerrt und zersplittert in den Spiegelwänden wider wie ein Kaleidoskop aus schwarzem Stoff und weißen Knochen.
Ondragons Pupillen sprangen hin und her, vom echten Baron auf seine Projektion und wieder zurück. Mechanisch wie bei einer Puppe begann der Kopf des Barons sich zu drehen, während seine schlaksigen Arme noch immer kraftlos neben seinem Körper baumelten. Mit seinen toten Augenhöhlen glotzte er die Eindringlinge an, das halbe Gesicht im Schatten der Hutkrempe. Es hätte nicht viel gefehlt und Ondragon hätte geglaubt, einer automatischen Geisterbahnfigur gegenüberzustehen. Doch wie ein knöcherner Reißverschluss öffneten sich plötzlich dessen gelbliche Zahnreihen und präsentierten ein bösartiges Grinsen.
Und als hätte der Baron seine Gäste längst erwartet, hob er ihnen beide Schlangenarme entgegen und sagte mit tiefer Stimme: „ Bienvenue, Mesdames et Messieurs! Entrez-vous! “
Ondragon hob seine Waffe, die sich schwer wie Blei anfühlte und richtete sie auf die dürre Gestalt. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und lief über sein Gesicht, während er darum kämpfte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Mit brennenden Augen starrte er den Totenbaron an und sagte sich zum wiederholten Male, dass dies nur ein Voodoo-Priester war und kein Geist.
Unvermittelt hob der Baron einen Zeigefinger und ließ ihn hin und her zucken wie den Zeiger eines Metronoms. Und erst jetzt setzte das dumpfe, rhythmische Schlagen wieder ein, das Ondragon zuvor schon vernommen hatte. Das Geräusch kam von der anderen Seite des Raumes.
Die Waffe unbeirrt auf Baron Samedi gerichtet, wagte Ondragon es, sich in die Richtung zu drehen. Dort stand der bucklige Sylvester Stern. Mit leblosem Blick schwankte er vor und zurück und rammte dabei seinen Kopf immer wieder gegen einen der großen Spiegel.
Thummm, thummm, thummm.
Wie eine kaputte Aufziehfigur rannte der Mailman gegen das Glas, prallte ab und unternahm einen nächsten unbeholfenen Versuch, mit dem Kopf durch den Spiegel zu stoßen, der schon zu einem Spinnennetzmuster gesprungen war. Doch das Tor zur Unterwelt blieb ihm verschlossen.
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