Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
Briefmarke und keine Aufschrift, war lediglich an der oberen Kante aufgerissen worden. Ondragon sah hinein. Nichts. Oder doch? Er drehte den Umschlag um und klopfte ihn mit der Öffnung auf die Tischplatte. Ein Pulver rieselte heraus. Nicht besonders viel, nur ein paar winzig kleine Krümel. Ondragon beugte sich vor und besah sich die Rückstände auf der Tischplatte mit der Lupe und angehaltenem Atem. Bräunlich, kristallin, gemischt mit amorphen Kügelchen.
Vielleicht war es eine Droge. Koks? Crystal Meth? Plötzlich musste Ondragon an die Grippesymptome des Bosniers denken und nahm hastig Abstand vom Umschlag.
Du Hornochse!
Pulver in Briefumschlägen! An was dachte man da normalerweise als erstes? Milzbrand natürlich! Aber verursachte der Bacillus anthracis derartige Beschwerden, wie der Springer sie gezeigt hatte? Schnell schob Ondragon die Reste zurück in den Umschlag und versiegelte ihn dreifach in Plastiktüten. Erst eine Untersuchung im Labor würde zeigen, worum es sich dabei wirklich handelte. Ob nun Drogen, Anthrax oder einfach nur Staub.
Eine Weile saß er da und starrte auf die geschlossenen Vorhänge. Zum Teufel, worauf hatte er sich da bloß eingelassen? Und in was war Tyler Ellys da hineingeraten? War er als Neonazi Teil einer Terrorzelle, die einen Anschlag plante? Aber warum dann ein Anschlag auf Ellys mit diesem Brief? Ondragon gab sich einen Ruck. Hysterie war noch nie ein guter Ratgeber gewesen. Er wischte seine Besorgnis beiseite. Wer sollte Ellys einen Milzbrand-Brief schicken? Und warum? Das war völlig absurd. Der Brief hatte doch in der Mülltonne gelegen. Wahrscheinlich war dort nur Sand in den Umschlag geraten. Harmloser Wüstensand. Dennoch wollte er auf Nummer sicher gehen. Er würde das Pulver zu seinem verrückten Chemiker nach L.A. schicken. Mit dem Express-Kurier wäre es noch heute Abend dort. Aber jetzt erst mal zum nächsten Projekt: Die Befragung der Nachbarn.
4. Kapitel
06. Februar 2010
Tucson, Arizona
10.25 Uhr
Ondragon rückte die Sonnenbrille in Pilotenoptik zurecht und drückte auf die Klingel. „Diego“ stand auf einem kleinen Schild daneben. Die laute mexikanische Musik, die eben noch aus dem Innern des Hauses gedrungen war, verstummte und die Tür öffnete sich. Vor ihm stand ein untersetzter Mittvierziger in Trainingshose und geripptem Unterhemd. Wie gut, dass heute Samstag war, dachte Ondragon und fragte: „Mr. Osvaldo Diego?“
„ Sí. Quién es?“ Diego beäugte ihn misstrauisch. Er sah aus, wie ein Latino aus der Werbung für Tortilla Chips. Etwas dicklich, mit kurzem, schwarzem Haar, Dreitagebart, chiligelber Haut und nachtfarbenen Augen. Nicht unsympathisch. Ondragon hielt ihm seinen gefälschten Ausweis unter die Nase. „FBI, Special Agent Otter“, brachte er forsch vor. „Ich bin hier, um Sie zu ihrem Nachbarn Mr. Tyler Ellys zu befragen.“ Und etwas freundlicher fügte er hinzu: „Vielleicht besprechen wir das drinnen in Ihrem Haus.“
Diego nickte zerstreut und ließ Ondragon eintreten. Sogleich kamen die beiden Kinder herbeigelaufen und fragten neugierig, wer der Besucher sei. „Der Mann will sich nur mit mir über tío Tyler unterhalten, geht doch hinaus in den Garten und spielt dort. Na los, en marcha !“
Onkel Tyler ? Ondragon hob eine Braue.
„Möchten Sie etwas trinken, Mr. Otter?“, fragte Diego, nachdem die Kinder durch die Hintertür verschwunden waren.
„Nein, danke, ich möchte lieber gleich zur Sache kommen.“
Diego nickte und bot seinem Besucher einen Platz auf der Couch an. Ondragon setzte sich, zückte den Notizblock und spitzte die Lippen. Die meisten Menschen kannten FBI-Agenten nur aus dem Fernsehen. Was lag da näher, als sich auch wie einer dieser TV-Affen zu verhalten. C.S.I. und so einen Quatsch, aber die Leute glaubten daran, denn kaum jemand hatte eine Vergleichsmöglichkeit mit der Realität, und in diesem Falle schaffte der Fake mehr Vertrauen, als das Original es tun würde. Sogar seine Verkleidung hatte Ondragon auf das Fernsehbild abgestimmt. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd mit Krawatte und darüber jenen dunklen Regenblouson mit den großen weißen FBI-Lettern auf dem Rücken. Auf seinem Kopf saß ein ebensolches Basecap. Ironischerweise bekam man all diese Artikel in der nächsten Shoppingmall. Bis auf den Ausweis natürlich.
„Mr. Diego“, begann er in professionellem Ton, „wie lange sind Sie und Mr. Ellys schon Nachbarn?“
„Seit dieses Viertel gebaut wurde, seit zehn
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