Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
„Ich weiß nur, dass tío Tyler verreist war, dann war er wieder da und dann wieder weg. Dann lag der tote Vogel auf seiner Veranda und danach war er krank.“
„Krank?“, fragten Diego und Ondragon gleichzeitig.
„Ja, Xavier und ich haben auf seiner Veranda gespielt und da ist er aus dem Haus gekommen und hat gesagt, wir sollen wieder rübergehen, weil er krank ist und uns nicht anstecken will.“
Der Anthrax-Brief!, schoss es Ondragon durch den Kopf. Unwillkürlich wurden seine Finger feucht. „Wie sah Mr. Ellys denn aus? War er blass, hatte er Husten?“
Maria nickte zu beiden Fragen.
„Wann war das?“
Das Mädchen rollte nachdenklich mit den Augen und blickte zur Zimmerdecke. „Am Montag.“
Am Donnerstag hatte Roderick DeForce bei Ondragon angerufen. Da hatte er Ellys schon seit zwei Tagen vermisst. Wenn die Kleine ihm am Montag begegnet war, dann war sie womöglich die letzte, die Ellys gesehen hatte.
„Und wie war das mit dem toten Vogel? Was war das für einer?“
Wieder ein kindliches Schulterzucken. „Ein schwarzer, vielleicht eine Krähe. Tío Tyler hat ihn in den Müll geschmissen.“
„Und wann war das?“
„Am Sonntag.“
Dann kam der merkwürdige Brief vorher, dachte Ondragon, zumindest hatte der Springer ihm erzählt, dass er ihn unter dem Vogel gefunden habe. „Hast du sonst noch etwas beobachtet, Maria?“
„Nein, Señor .“
„Kannst du mir dieses Muster, das auf Mr. Ellys‘ Auto war, noch einmal beschreiben?“
„Ja, es waren Kringel und Kreuze. Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.“
Ondragon sah das Mädchen verblüfft an, und Maria lachte. „Es ist auch auf tío Tylers Veranda!“
Gemeinsam eilten sie hinaus in den Garten und hinüber zu Ellys‘ Veranda. Als sie davor standen, erkannte Ondragon die hellen, etwas verwischten Schnörkel und Linien. Sie waren mit einer weißen, glitzernden Farbe auf die Dielen aufgetragen worden, vermutlich mit dem Finger. In der Nacht zuvor hatte er sie nicht gesehen, weil er die Lampe im Freien nicht eingeschaltet hatte. Das Muster war zirka einen Schritt lang und genau vor der Tür. Es zeigte ein zentrales, gleichschenkliges Kreuz, dessen Enden in Schnörkeln und kleineren Kreuzen ausliefen, darum herum waren naive Totenköpfe und wieder diese sargförmigen Objekte angeordnet. Darunter stand das Wort SAMEDI geschrieben.
„Kannst du schreiben?“, fragte Ondragon das Mädchen, das den Kopf schüttelte. „Dann wäre wohl auch bewiesen, dass dies hier nicht von Ihrer Tochter stammt, Mr. Diego.“ Der Mexikaner nickte beipflichtend. Der kleine Xavier umklammerte dessen Bein und sah neugierig zu Ondragon hinauf. „Seit wann ist dieses Muster hier?“
„Seit dem Vogel. Er hat dort gelegen.“ Maria zeigte auf die Mitte des großen Kreuzes.
„Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?“ Ondragon wandte sich wieder an Diego.
„ No , ich wusste gar nicht, dass es auch hier eine von diesen Schmierereien gibt. Ich hatte nur die auf dem Auto von Señor Ellys gesehen. Aber die sah so ähnlich aus.“
„Was könnte das bedeuten?“
„Es ist nichts Mexikanisches. Vielleicht Candomblé ?“
Ondragon nickte und fotografierte das Muster. Candomblé , so entsann er sich dunkel, war eine Religion in Brasilien, die afrikanische mit christlichen Elementen verband, ähnlich wie bei der Santería in Kuba oder beim Voodoo auf Haiti. Aber was hatte das mit Tyler Ellys zu tun, einem weißen Neonazi? Ondragon wünschte sich nichts dringlicher, als mit Roderick DeForce zu sprechen. Er steckte sein Handy weg und sah Diego an. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meine Fragen zu beantworten.“
„ No Problemo . Ich hoffe, Señor Ellys taucht bald wieder auf.“ Diego klang ehrlich besorgt.
„Das hoffen wir auch. Einen angenehmen Tag noch.“ Ondragon wurde vor das Haus geführt. Er winkte den beiden kleinen Kindern zum Abschied und ging zu seinem Auto, das er diesmal direkt auf der Straße geparkt hatte.
Auf der Rückfahrt zum Hotel legte er Baseballkappe und Jacke ab und ließ sich das Gespräch mit der Diego-Familie noch einmal durch den Kopf gehen. Ein Gedanke besorgte ihn dabei am meisten: Auch Tyler Ellys war krank gewesen! Er fischte das Handy aus seiner Hosentasche und wählte Boličs Nummer. Die Mailbox war dran. Ondragon legte fluchend auf. Wo steckte der Kerl? Warum konnte er nicht an sein Scheißhandy gehen?
Als anschließend die beiden Freunde von Tyler Ellys und obendrein auch noch Rod seinen Anruf nicht
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