Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
Ex-Mailman! Und ein solcher ließ seinen Verstand nicht von ein paar Unwägbarkeiten aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil, in Situationen wie diesen blühte er sogar noch auf! Letztendlich hatte dieser außergewöhnlich akkurate Verstand ihm schon unzählige Male das Leben gerettet. Und das würde er auch dieses Mal tun.
Ondragon spürte förmlich, wie sein Gehirn mit mechanischer Präzision die Chancen errechnete. Dabei kam heraus, dass eine Durchquerung des Bayou den größeren Erfolg versprach als eine Wanderung mit ungewissem Ausgang durch die Mangroven. Tja, hoch lebe die Wahrscheinlichkeitsrechnung!
Von frischer Zuversicht beseelt kletterte er zurück an den Rand des Wasserarms und spähte nach unten in das trübe Wasser. Der Alligator war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass er mit seinem erdnussgroßen Hirn der höher entwickelten Intelligenz auf zwei Beinen hoffungslos unterlegen war, und sich aus dem Staub gemacht.
Als Vorbereitung für die Überquerung zog Ondragon sich einen seiner Schuhe aus (die guten aus Leder) und stülpte ihn sich über seine rechte Hand. Er würde ihn dem Alligator zwischen die Zähne schieben, falls er ihn angreifen sollte. Und falls die Attacke nicht von unten kam …
Das Jackett wand er sich um die Hüfte und ließ die ruinierte Krawatte gelockert um seinen Hals hängen. Man konnte nie wissen. Ansonsten war der feine Stadtanzug für einen Survival-Marsch in der Wildnis eher ungeeignet. So waren jedoch nun mal die Fakten.
Ondragon blickte auf den spiegelglatten Bayou hinaus und suchte nach kleinen Kräuselungen, die verrieten, dass sich dort etwas im Wasser bewegte. Aber die Oberfläche des Flusslaufs blieb reglos. Scharf sog er Luft ein, weil er einen kleinen Stich der Angst verspürte. Der unliebsame Begleiter aller Hasenfüße hatte sich heimlich in das Kühlfach seiner Emotionen eingeschlichen und stöberte dort nun ungehindert nach Nahrung. Das konnte er auf keinen Fall zulassen. Mit der harten Geraden seiner unbestechlichen Logik streckte er den Eindringling nieder.
Entweder du schwimmst, oder du krepierst! So einfach ist das.
Kurzentschlossen streckte er die Arme nach vorn und ging in die Knie. Dann stieß er sich ab und tauchte mit einem Kopfsprung ins trübe Wasser. Noch unter der Oberfläche begann er mit langen Zügen zu schwimmen und ging erst, als er wieder hochkam, in einen kraftvollen Kraulstil über. Laut klatschten die Bewegungen in seinen Ohren, was ihn taub für andere Geräusche machte. Aber er hatte keine andere Wahl. Kraulen war immer noch am schnellsten.
Mit einem ruhigen Rhythmus versuchte er, die Geschwindigkeit noch zu steigern, und blickte bei jedem Atemzug über das Wasser. Noch war alles glatt und ruhig. Das gegenüberliegende Ufer kam immer näher. Yard um Yard. Als er zwei Drittel des Wasserarms durchmessen hatte, schreckten vor ihm eine Handvoll Reiher aus dem Schilf auf, und er erkannte etwas Längliches, das sich vom Ufer ins Wasser schob. Doch anstatt innezuhalten, änderte Ondragon um ein paar Grad die Richtung und erhöhte die Schlagzahl. Wieder entflammte der brennende Schmerz in seinen Gliedern und legte sich lähmend auf die Wirksamkeit seiner roten Muskelfasern, die für die Ausdauer zuständig waren. Ondragon spürte einen gewissen Ärger über seine Unzulänglichkeit. So schlecht in Form war er schon lange nicht mehr gewesen. Er schaffte noch nicht mal zwei Beckenlängen Freistil! Wahrscheinlich hatten seine Entführer ihn mit Drogen vollgepumpt, die seine Körperfunktionen immer noch bremsten.
Zu seinem großen Entsetzen zerschnitt plötzlich eine scharfe V-Linie die glatte Oberfläche zu seiner Rechten. Zwei Erhebungen so groß wie Pingpongbälle lugten aus dem Wasser. Die Augen eines Alligators. Ob es derselbe war, der ihm heute Morgen Gesellschaft geleistet hatte, oder ein weit größeres Exemplar, konnte er nicht feststellen. Schnell warf er einen prüfenden Blick nach vorn ans Ufer. Geschätzte zwanzig Yards trennten ihn von dem schmalen Schilfstreifen, der gleichfalls unter Wasser stand. Kein fester Boden also. Würde ihn das schützen?
Es gab keine andere Möglichkeit. Er musste dorthin. Im offenen Wasser war er verloren. Verzweifelt seine Arme in immer kraftloser werdenden Zügen vorwärtswerfend, riskierte er einen Blick zur Seite. Die V-Linie war da und sie war näher gekommen, auch wenn das Reptil ein gemächliches Tempo vorlegte, holte es dennoch mühelos auf. Ondragon mobilisierte all seine
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