Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
verbliebene Energie und ließ die Arme durch das Wasser pflügen.
Denk nicht an das, was hinter dir ist, denk an das, was vor dir liegt! Oder besser, denk überhaupt nicht! Schwimme! Schwimme um dein verdammtes Leben! Eins, zwei, atmen, eins, zwei, atmen. Schneller! Du schaffst es.
Ein harter Schlag traf ihn am rechten Bein und ein jähes Stechen schoss hinauf bis in sein Rückgrat. Überrascht schrie Ondragon auf und rollte sich im Wasser zur Seite. Wild schlug er mit den Armen um sich, und seine Füße traten in die bodenlose Tiefe aus wie die Hufe eines Maulesels. Hastig wandte er den Kopf in alle Richtungen, die Hand mit dem Schuh erhoben. Wo war das Vieh? Natürlich war die V-Linie von der Oberfläche verschwunden und der Alligator auf Tauchfahrt gegangen, damit das Opfer seinen nächsten Angriff nicht vorausahnen konnte. Heimtückisches Biest!
Wieder streifte etwas seine Wade, und vor Schreck geriet Ondragon das moderige Wasser in die Lunge. Hustend bemühte er sich, an der Oberfläche zu bleiben und seinen Blick auf das Ufer zu heften. Es waren nur noch fünf Yards, drei lächerliche Körperlängen! Los, schwimm weiter! Aufgeben ist etwas für Amateure!
Trotz seines schmerzenden Beines und der eklatanten Ermüdungserscheinungen warf er sich nach vorn in die Fluten und kraulte, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Welt bestand nur noch aus braunem Brackwasser, das ihm in Mund und Ohren drang, und dem schäumenden Getöse seiner Schwimmbewegungen. Wie ein Marathonläufer auf der Zielgeraden kämpfte er sich voran … bis seine Füße endlich auf Grund trafen. Mit einem rauen Siegesschrei stemmte er sich aus dem Fluss und wollte auf das Ufer zustürzen, da tauchte neben ihm der Kopf des Alligators aus dem Wasser auf. Lautlos schoss sein Maul vor und präsentierte ihm eine rosafarbene Zunge und die unregelmäßigen Reihen von konischen Reißzähnen. Instinktiv reagierte Ondragon, stopfte dem Reptil den Schuh tief in den Rachen und zog schnell seine Hand wieder zurück.
Der Alligator, der spürte, dass er etwas Festes erwischt hatte, tauchte gurgelnd unter und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Ondragon nutzte die bei dem Tier einprogrammierte Todesrolle und wand sich mit letzter Kraft an den Uferstreifen, wo er sich hastig zum nächsten großen Baum flüchtete. Es gelang ihm, einen tiefhängenden Ast zu greifen und seine Beine hinaufzuschwingen.
Ungefähr so elegant wie ein Faultier, aber sicher vor dem Alligator, hing er schließlich dort, bis er neuen Atem schöpfen und sich ganz auf den Ast ziehen konnte. Danach dauerte es eine sehr lange Zeit, bis sein Herzschlag sich wieder normalisiert hatte.
Irgendwann hob Ondragon erschöpft den Kopf von der rauen Rinde des Astes und sah hinab. Dort kauerte das Mistvieh noch immer im flachen Wasser und wartete. Zum Glück war es sein alter Freund, denn wäre es ein größerer Kollege gewesen, dann hätte er jetzt womöglich statt einer Schnittwunde einen unsauber amputierten Unterschenkel. Ondragon ließ die Arme baumeln und zeigte dem Reptil den Mittelfinger.
„Wir sprechen uns noch, du beißende Handtasche!“ Wenigstens hatte er seinen Humor wiedergefunden, anders war die Scheiße hier auch nicht zu ertragen. Er setzte sich langsam auf, jeden einzelnen Muskel prüfend. Aber bis auf ein dumpfes Ziehen in den Gliedern und das Brennen der Wunde am Bein schien alles okay zu sein.
Gut, dann kommen wir jetzt zum nächsten Projekt, dachte er zynisch. Nach der Amazonasdurchquerung folgt die Besteigung des Mount Everest. Die Dschungel-Olympiade ließ aber auch keine Disziplin aus!
Er schaute hinauf in die Krone der mächtigen Sumpfeiche, auf die er sich gerettet hatte. Der Weg nach oben sah machbar aus. Schließlich kam Klettern gleich nach Schwimmen in der Beliebtheitsskala amerikanischer Individual-Sportarten. Da er keine Zeit zu verlieren hatte, legte er gleich los.
Ast um Ast arbeitete er sich nach oben und durchbrach nach einer quälend langen Ewigkeit endlich das dichte Blätterdach.
Die Aussicht, die sich ihm bot war … ernüchternd.
Der Baum überragte zwar seine Nachbarn, jedoch war von hier aus meilenweit nichts als der grüne Teppich des Sumpfes und der Feuchtwälder zu erkennen, hier und da lediglich von der silbernen Ader eines Bayou durchzogen. Weit und breit keine Zeugen menschlicher Anwesenheit, kein Telegrafen- oder Mobilfunkmast und kein Hausdach.
Enttäuscht knetete Ondragon seine Nasenwurzel. Was sollte er jetzt tun? Hatte er in
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