One: Die einzige Chance (German Edition)
seinem Sakko. »Das Leben ist ein verdammtes Klischee, mein Junge. Schublade auf und schon landet man da, wo einen die Menschen haben wollen.« Er schniefte. »Hat man dir auch ein unfreiwilliges Upgrade verpasst?«
»Ähm, ja«, stammelte Samuel. Er wusste nicht, warum er log. Wahrscheinlich wollte er sich nicht dafür rechtfertigen, Besitzer eines teuren Tickets zu sein. Der Mann hätte bestimmt nachgebohrt.
»Eigentlich ein guter Trick. Die Katze mitnehmen und schon fliegt man first class. Bei mir hat der Vollbart gereicht.«
Die zierliche Flugbegleiterin servierte dem Mann einen Orangensaft. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war völlig übertrieben. Die Angst vor einem weiteren Konflikt spiegelte sich in ihren Augen. Heute hasste sie mit Sicherheit ihren Job. Der Mann hob ablehnend die Hand. »Ich trinke Alkohol«, knurrte er wie ein Hund, der die Unterlegenheit seines Gegenübers gerochen hatte. »Ist es vielleicht möglich, dass Sie mir einen ordentlichen Drink servieren? Ich mein, das hier ist doch jetzt die erste Klasse, nicht wahr? Hier wird doch alles für das Wohl der Gäste getan.«
»Ähm, aber natürlich«, sagte die Frau und errötete. »Was darf ich Ihnen denn bringen?«
»Einen Martini. Geschüttelt, nicht gerührt.« Der Mann lachte über sich selbst. »Und für den harmlosen jungen Mann da drüben das Gleiche.«
Die Flugbegleiterin tauschte einen Blick mit Samuel, der nicht recht wusste, wie er reagieren sollte. Bevor ihn der Mann jedoch in eine Diskussion verwickelte, stimmte er mit einem wortlosen Nicken zu. Die Flugbegleiterin trat stolpernd den Rückzug an. Es schien ihr egal zu sein, dass Samuel noch nicht volljährig war.
Wenig später meldete sich der Pilot über die Bordlautsprecher und erklärte die Wetterlage. Das Wort »Turbulenzen« genügte Samuel. Er spülte die rosa Tablette hinunter. Diesmal nicht mit Wasser, sondern mit einem ordentlichen Schluck Martini. Dann checkte er ein letztes Mal seine Mails. Kata beschwerte sich darüber, dass er sie nicht geweckt hatte. Sein Vater hatte ihm die Adresse seines Freundes noch einmal per Mail geschickt. Wahrscheinlich hatte er geahnt, dass der Zettel im Papierkorb landen würde. Hinter der Anschrift folgte eine längere Entschuldigung, weshalb er heute Morgen nicht zum Frühstück bleiben konnte. Samuel las nur die ersten beiden Zeilen. Dann verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Die rosa Tablette begann zu wirken – und wie. Ein unsichtbares Gewicht drückte auf seine Augenlider, bis er nur noch undeutliche Schemen sehen konnte. Der Strom seiner Gedanken prallte gegen eine Mauer der Gleichgültigkeit. Die Flugbegleiterin ermahnte ihn, sein Mobiltelefon auszuschalten, und Samuel stierte ihr dafür ungeniert in den Ausschnitt, bevor sich jede Faser seines Körpers entspannte und er in einen traumlosen Schlaf hinüberdämmerte. Er wachte erst wieder auf, als das Flugzeug holpernd wie auf einer unbefestigten Straße seinem Ziel entgegenraste und sein neu gewonnener Freund in Handschellen Richtung Bordtoilette geführt wurde.
»Diese Typen haben keinen Respekt vor Frauen«, raunte hinter ihm eine Stimme. Samuel schlief wieder ein.
Fünf
Frankfurt | 17 Grad | Heiter
Samuel hatte die Passkontrolle hinter sich gelassen. Fingerabdrücke und ein Bild für die Leute vom Zoll – das war’s. In Deutschland waren die Beamten freundlicher als in anderen Ländern, das war nicht bloß ein Gerücht. Für Badawis Papiere brauchten sie etwas länger, doch schließlich gaben sie auch ihm grünes Licht für den Grenzübertritt. Die Tablette wirkte immer noch. Samuel versuchte seine Müdigkeit mit einem doppelten Espresso zu bekämpfen, was nur kurz funktionierte. Wahrscheinlich hätte er das Medikament zusammen mit den Echseneiern schlucken sollen und nicht mit einem Glas Martini. Die Einsicht kam zu spät. Vom vielen Koffein auf nüchternen Magen hatte er nun auch noch Bauchschmerzen und sein Herzschlag beschleunigte. Willkommen zu Hause!, sagte er sich selbst und versuchte die Schmerzen wegzulächeln. Aus den Lautsprechern plärrten im Sekundentakt neue Durchsagen. Es war merkwürdig, wie sein Gehirn zuerst die englische Version registrierte und dann die deutsche. Auch geträumt hatte er die letzten Jahre auf Englisch. Vielleicht würde sich das nach ein paar Tagen ändern.
»Wegen Demonstrationen kommt es zu Verspätungen im Nahverkehr. Bitte beachten Sie Fahrplanänderungen.« Über die Monitore flimmerten endlose Listen mit Zugausfällen,
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