One: Die einzige Chance (German Edition)
Menge. Es war erstaunlich, wie flink sie sich durch den reißenden Fluss bewegte. Immer wieder verschwand ihr Kopf, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Kaum war sie bei dem Mann angekommen, winkte sie Samuel herbei. Er atmete einmal tief durch, bevor er sich wie ein Rugbyspieler durch die Menge wühlte. Ellenbogen krachten gegen seine Rippen. Koffer versperrten ihm den Weg, aber eine Minute später stand er völlig außer Atem neben der Frau.
»Hier ist dein Fahrgast«, sagte sie, an den Mann gerichtet, der seine glimmende Zigarette auf den Boden warf und austrat. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als erfreut.
»Aber …«, setzte er an, doch die Frau brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen.
»Was hab ich dir beigebracht?«
»Ich … ich wollte gerade den Wagen holen, um …« Der Mann verstummte. Er verdrehte die Augen und zog die Sonnenbrille aus seinem Haar. »Ja, ja. Schon gut.« Dann wandte er sich an Samuel. »Komm mit!«
»Willst du ihm nicht beim Tragen helfen? Er ist ein Fahrgast. Und er bezahlt nur den normalen Preis. Ist das klar?« Ihre Brauen hüpften einmal kurz nach oben, bevor sie das Gesicht des Mannes mit beiden Händen heranzog und ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Es musste ihr Sohn sein. Er murmelte etwas, das sich wie »Mamuschka« anhörte, dann griff er nach dem Koffer von Samuel und ging ihm voran durch die Menge zu einer Tür, die ins Flughafengebäude hineinführte. Ohne zu reden, hastete der schlanke Mann durch die Gänge. Wütend kickte er eine Dose aus dem Weg. Kurze Zeit später standen sie in einem von Betonwänden umgebenen Innenhof vor einem Taxi mit polierten Alufelgen. Wie gewohnt setzte sich Samuel auf die Rückbank. »Wohin?«, fragte der Mann unfreundlich und schaltete das Taxameter ein. Samuel blickte auf die Notiz in seinem Handy. Glücklicherweise hatte er sie nicht nur in der Cloud gespeichert, sonst wäre er jetzt aufgeschmissen. Er nannte die S-Bahn-Haltestelle, was der Mann mit einem tiefen Seufzer quittierte. »Ist die Hölle los. Überall. Ich schau mal, wo wir durchkommen. Sind drei Demos am Laufen. Gegen Mietwucher, gegen ein Demo-Verbot und gegen die neuen Schulgebühren. Aber am schlimmsten sind die Occupy-Deppen, die zünden auch Autos an, um ihrem Ärger Luft zu machen. Das ist wirklich das Letzte.«
»Ich kann das letzte Stück ja gehen«, bot Samuel an. »Hauptsache, wir kommen jetzt los.«
»Ja, ja, keine Hektik.«
Sie fuhren einige Minuten auf der Autobahn. Es war nicht viel los. Sie schwiegen. Samuel würde dem Taxifahrer nachher ein ordentliches Trinkgeld geben. Wahrscheinlich hatte er nur darauf gewartet, dass der Preis weiter stieg, und jetzt hatte ihn seine Mutter zu diesem Akt der Nächstenliebe verdonnert.
Samuel warf einen Blick auf sein Handy. Immer noch kein Empfang. Sie überholten einen langen Konvoi aus Mannschaftswagen der Polizei, der auf die Innenstadt von Frankfurt zurollte. Passend dazu türmten sich Regenwolken in den Himmel, die angestrahlt von der tief stehenden Sonne an eine mächtige Walze erinnerten.
»Für diese Scheiße zahlen wir Steuern. Das ist Demokratie. Echt zum Kotzen. Ich mein, ich find’s auch beschissen, was gerade abgeht, so ist das nicht, hab schließlich was zur Seite gelegt, aber diese Demos sind echt geschäftsschädigend. Neulich ist so ein Typ mit blutiger Fresse bei mir eingestiegen. Ich konnte ihn ja schlecht rausschmeißen. So bin ich auch nicht. Aber Blut geht nun mal nur mit Spezialreiniger raus. Und das zahlt dir keiner.«
»Klar«, sagte Samuel, ohne den Mund mehr als nötig zu öffnen. Er spürte wieder Müdigkeit aufsteigen und aus irgendeinem Grund fühlte er sich plötzlich einsam. Er dachte an Kata, an Emilia, an Hongkong und seine Freunde. An die letzte Nacht und den Morgen. Den Start seiner Reise hatte er sich anders vorgestellt. Glücklicher, befreiter. Anders eben. Und jetzt roch sogar die klimatisierte Luft im Taxi genauso muffig wie in Hongkong. »Könnten … könnten Sie die Klimaanlage bitte ausschalten?«
»Woher kommst du?«, fragte der Mann und betätigte einen Schalter.
»Hongkong.«
»Echt? Muss der Hammer sein, die Stadt. Dagegen kann die Skyline von Frankfurt einpacken.«
»Gibt auch viel Natur drum herum.«
»Sieht im Fernsehen gar nicht so aus.« Ein Blick in den Rückspiegel. »Okay, wenn ich die Scheiben runterlasse?«
»Klar.«
Der Fahrtwind strömte herein und jetzt roch die Luft anders. Sie roch so, wie Samuel sie nur von seiner Zeit in
Weitere Kostenlose Bücher