One: Die einzige Chance (German Edition)
der Kater von einem Ort zum anderen begleitet. Jetzt, da sein Freund vielleicht nicht mehr lange zu leben hatte, wäre es unfair gewesen, ihn zurückzulassen.
Emilia stand in der Küche und schlug Eier in die Pfanne. Sie grüßte leise, ohne sich umzudrehen, und widmete sich als Nächstes dem Zerhacken einer Zwiebel, als wollte sie das Holzbrett zu Essstäbchen verarbeiten. Samuel zog einen Stuhl heraus und trank einen Schluck von dem frisch gepressten Orangensaft. Er hatte keinen Hunger. Aus dem Radio schmachtete eine schaurig schmalzige Männerstimme. Emilia hatte eine Vorliebe für Musik, die von unerfüllter Liebe, Sehnsucht und kitschigem Verlangen erzählte. Als Kind hatte sie ihm zum Einschlafen immer vorgesungen. Kinderlieder auf Deutsch, Englisch und Spanisch. Das würde er nie vergessen. Nie. Er checkte seinen Account. Verschwommene Partybilder der vergangenen Nacht öffneten sich entlang der Timeline. Sie wurden flankiert von Kommentaren und Links, die zu Videoclips führten.
»Ist Vincent schon fort?«, fragte er den Rücken von Emilia. Der scharfe Geruch der Zwiebeln kratzte in seiner Nase. »Wir wollten zusammen frühstücken. Papa und ich.«
»Er ist traurig«, sagte Emilia, schob eine ordentliche Portion Rührei auf den rechteckigen Teller, platzierte die glasigen Zwiebelwürfel daneben und wischte den Tellerrand mit einem Tuch ab. Sie drehte sich um. Ihre freundlichen Augen sahen entzündet aus. Hatte sie geweint? Oder waren es die Zwiebeln? Mit zitternder Hand stellte sie den Teller vor Samuel ab.
»Ich bin auch traurig«, sagte Samuel und griff nach der faltigen Hand von Emilia. »Aber ich kann nicht hierbleiben. Ich … ich will mich umschauen, reisen und so.« Samuel fühlte sich mit einem Mal wie ein Verräter. Vor diesem Moment hatte er sich die letzten Wochen gefürchtet: vor dem Abschied von Emilia. Sie wusste mehr über ihn als seine eigene Mutter. Mehr als sein Vater. Mehr als seine Freunde. Und jetzt würde er sie zurücklassen, nach allem, was sie für ihn getan hatte.
Die nächsten Minuten versuchte er sie zum Lachen zu bringen. Er stand auf, griff nach einem Kochlöffel und bewegte die Lippen mehr oder minder synchron zu dem Schlager aus dem Radio. Und es funktionierte. Emilia lachte. Sie lachte und weinte zugleich. Er fasste sie bei den Händen und tanzte mit ihr um den Tisch, wie sie es als Kind oft getan hatten. Ihr Kopf reichte ihm gerade mal bis zur Brust. Als die Musik verstummte, verstummte auch ihr Lachen. Sie schluchzte. Samuel legte seine Arme um ihren fülligen Körper und er spürte das Beben in ihrer Brust.
Wie in Trance hockte er eine Stunde später auf der Rückbank des Taxis und beobachtete die Landschaft, die durch die regennassen Scheiben vorüberzog. Das Gefühl, ein Verräter zu sein, konnte er nicht abschütteln. Emilia. Immer noch hatte er ihr verheultes Gesicht vor Augen. Natürlich wollte er sie wiedersehen. Er hatte ihr viel zu verdanken. Aber was sollte er tun? Dableiben, nur damit es ihr und seinem Vater wieder besser ging? Seinem Vater. Der hatte es ja nicht mal fertiggebracht, ihn zu verabschieden, sondern war einfach schon weggefahren.
Samuel schaute auf die Uhr. Vor zwanzig Minuten hatte er die erste Beruhigungstablette geschluckt, die blaue. Die rosafarbene sollte er erst in drei Stunden nehmen und auch nur, wenn es nicht anders ging. Offensichtlich betäubte die erste Tablette nur den Teil des Gehirns, der für seine Flugangst verantwortlich war, und nicht den, der ihm sagte, dass er umkehren sollte. Auf der Stelle. Er hatte es vorhin ja selbst in den Nachrichten gesehen. In Berlin und London war es erneut zu Ausschreitungen gekommen. Ein paar militante Idioten hatten Autos angezündet und einem Investmentbanker zehn Tonnen verrottetes Getreide in den Vorgarten geschüttet, weil der anscheinend mit Soja spekuliert hatte. Gefährlich hörte sich das nicht an. Die Großaufnahmen der aufgebrachten Aktivisten hatten ihn eher abgestoßen. Viele waren kaum älter gewesen als er. Sie lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und pinkelten vor laufender Kamera in Polizeihelme, die sie erbeutet hatten.
Obwohl er die Reise seit Monaten geplant hatte, kam sie ihm jetzt vor wie eine Flucht. In wenigen Tagen wurde er volljährig. Dann konnte er tun und lassen, was er wollte, und musste keine Rechenschaft mehr ablegen. Er betrachtete die ausgebeulte Papiertüte mit dem Geschenk seines Vaters drin. Nicht mal das hatte er ihm selbst übergeben.
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