Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
One: Die einzige Chance (German Edition)

One: Die einzige Chance (German Edition)

Titel: One: Die einzige Chance (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Elsäßer
Vom Netzwerk:
die von Nachrichtenbildern unterbrochen wurden. Brennende Autos, eingeschlagene Schaufenster, Polizisten in Kampfmontur, die Demonstranten einkesselten, und dazwischen Börsenkurse, die allesamt im Minus standen. Eins zu null für seinen Vater. Diesmal hatte er mit seinen Prophezeiungen richtiggelegen. Wahrscheinlich hockte er längst im Konferenzraum eines seiner Kunden und versuchte, die Lage mit irgendwelchen Zahlenmodellen zu erklären.
    Samuel hatte sich mit Nina, wie seine Internet-Bekanntschaft hieß, an einer S-Bahn-Haltestelle in der Innenstadt verabredet. In Anbetracht der Menschenmassen, die aufgebracht und ziellos durcheinanderwuselten und losbrüllten, sobald sie in der Menge jemanden entdeckten, der eine Uniform trug, beschloss er, ein Taxi zu nehmen. Der Lärm war ohrenbetäubend laut. Badawi erwachte aus seinem Dämmerzustand. Er fauchte, sobald jemand zu nah an das Gitter herankam. Wie ein zahnloser Tiger schien er jedoch zu ahnen, dass seine Unmutsäußerungen kaum jemanden erschreckten, und verkroch sich schließlich in die hinterste Ecke seiner Behausung. Samuel schlängelte sich zum Ausgang. Im Vorbeigehen verpasste ihm ein Typ im Anzug einen Stoß mit dem Ellenbogen, drückte sich mit einem Geldschein winkend durch eine Lücke in der Warteschlange und ergatterte ein Taxi. Sofort witterten auch die anderen Taxifahrer das Geschäft ihres Lebens, parkten in zweiter und dritter Reihe, stiegen aus ihren Wagen und versteigerten die Fahrten an den Höchstbietenden.
    »Maximal zwanzig Kilometer!«, brüllte einer nach dem andern. Angebot und Nachfrage. Was in der Schule langweilige Theorie gewesen war, sah in Wirklichkeit bedeutend amüsanter aus. Samuel konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wahrscheinlich hatte die Tablette aus ihm einen buddhistischen Mönch gemacht, der mit stoischer Gelassenheit sein Schicksal erwartete. Er fühlte sich wie auf einem orientalischen Basar. Ein Mann mit Schiebermütze schmiss seine Zigarette auf den Boden und stürmte auf ein Großraumtaxi zu. Noch im Gehen schien er sich mit einer zierlichen Frau darauf zu verständigen, das Taxi gemeinsam zu ersteigern. Beide hielten sie mehrere Scheine in die Luft. Scheine. In Hongkong zahlte man mit Kreditkarte, Fingerabdruck oder Handy. Nur auf dem Nachtmarkt in der Temple Street war es ratsam, mit Bargeld zu bezahlen. Sonst traf einen bei der nächsten Kreditkartenabrechnung womöglich der Schlag.
    Der Preis für ein Taxi war innerhalb von Sekunden sprunghaft gestiegen. So hektisch hatte Samuel Deutschland nicht in Erinnerung. Aber in fünf Jahren konnte sich viel verändern. Von der Rushhour in Hongkong war er einiges gewohnt, aber das hier war Krieg. Ein weißhaariger Mann prügelte mit seinem Gehstock auf einen Taxifahrer ein, als sie sich über den Fahrpreis nicht einig werden konnten. Er schimpfte den dunkelhäutigen Mann einen Verbrecher und brach beinahe in Tränen aus, als der Beleidigte den Holzstock mit den Wanderplaketten in Stücke brach. Eine junge Frau mit wehender Mähne hatte sich mit zwei kleinen Kindern im Arm auf einen Kofferwagen gestellt und beäugte die aufgebrachte Menge argwöhnisch. Sie wirkte wie eine neuzeitliche Jeanne d’Arc, die nur auf die passende Gelegenheit wartete, loszuschlagen.
    »Das ist verdammt noch mal mein Taxi!«, brüllte ein Mann in Hawaiihemd und Bermudas, wuchtete seinen Koffer auf den Rücksitz eines silbernen Mercedes, wo bereits ein anderer Fahrgast saß. Samuel musste lachen, was ihm den verständnislosen Blick einer Geschäftsfrau einbrachte. Außer der Transportbox und dem Rucksack hatte er nur einen kleinen Koffer mitgenommen. Für den Anfang wollte er möglichst wenig mit sich herumschleppen. Sollte er tatsächlich bei seiner Mutter bleiben, würde ihm Emilia die restlichen Sachen später nachschicken. Es gab ohnehin nicht viel, woran er hing.
    Badawis Transportbox war alles andere als leicht. Der Schulterriemen schnitt ihm schmerzhaft in die Haut. Samuel zog sein Handy aus der Jacke und schaltete es ein. Er hatte seiner Mutter versprochen, gleich anzurufen, wenn er gelandet war, doch er kam nicht durch. Vermutlich war das Netz überlastet. Hoffentlich versuchte diese Nina nicht ausgerechnet jetzt, ihn zu erreichen.
    Aus den Terminals schoben sich immer mehr Menschen ins Freie. Sie schimpften über die Taxis, die eines nach dem anderen davonbrausten. Neue Wagen blieben aus. Schließlich zog ein Strom aus wütenden Menschen über die Straße hinaus aus dem

Weitere Kostenlose Bücher