One: Die einzige Chance (German Edition)
Flughafengelände. Unzählige Rollen von Koffern, klapprige, quietschende und schleifende Metallwagen verursachten einen Höllenlärm. Samuel dröhnte der Kopf. In seiner Erinnerung war Deutschland ein Land, in dem alles nach Plan lief. Man konnte sich darauf verlassen, dass Züge pünktlich waren, Straßen und Gehsteige sauber und keiner auf die Idee kam, irgendwelche Sachen ins Essen zu mischen, die da nicht reingehörten. Vielleicht war es aber auch nur ein Klischee. Langsam wurde ihm bewusst, dass die Zeit knapp wurde. Wenn er nicht bald eine zündende Idee hatte, würde er zu spät kommen. Dummerweise hatte er nicht einmal die Adresse des Mädchens. Er hatte gelogen, als er sie seinem Vater gegenüber als gute Bekannte ausgegeben hatte. Samuel hatte die Nase voll von riesigen Suiten in Luxushotels. Er wollte endlich das richtige Leben kennenlernen. Und ganz normale Leute. Also hatte er sich bei einem Share-your-Room-Portal angemeldet. Es war den Anbietern von Schlafplätzen freigestellt, welche Daten sie preisgaben. Im Fall von Nina waren es nur die Telefonnummer gewesen und die ungefähre Lage der Wohnung. Sie vermietete ein Gästezimmer und bot an, die Leute in der Stadt herumzuführen. Auf die Frage, ob sie etwas gegen einen alten Kater hätte, hatte sie mit mehreren kindischen Katzen-Icons geantwortet.
In einer Stunde musste er an der Haltestelle sein und noch immer zeigte sein Handy keinen Empfang. Eine ältere Frau mit knöchellangem Rock trat durch eine Seitentür des Terminals, auf der in fetten Buchstaben NUR FÜR PERSONAL stand, nach draußen. Sie schüttelte den Kopf, als sie die vielen Menschen sah, die verzweifelt auf ihre Handys einhackten, um sie kurze Zeit später resigniert wieder einzustecken. Samuel kreuzte ihren Blick. Er lächelte. Das sanftmütige rundliche Gesicht der Frau erinnerte ihn an Emilia. Sie hatte dieselben freundlichen Augen – und sie lächelte zurück. In dem Moment bogen mehrere Taxis in die Straße ein. Wieder brüllten die Menschen. Die Menge teilte sich. Bevor erneut Tumult aufflammte, krachten dreißig Meter weiter vorne Stahltüren auf. Ein Heer aus uniformierten Sicherheitsbeamten bildete einen Korridor, damit ein kleiner Junge im Rollstuhl und ein altes Ehepaar geschützt die Taxis erreichten. Schließlich durfte auch Jeanne d’Arc das Schlachtfeld verlassen. Für einige Sekunden kam die tobende Meute zum Stillstand. Als würden sich die Leute plötzlich dafür schämen, wie tollwütige Tiere um ein Taxi gekämpft zu haben.
»Verrückt«, sagte die Frau. Aus der Nähe erinnerte sie Samuel noch mehr an Emilia. Nur die Furchen in ihrem Gesicht waren nicht ganz so tief. Ihre großen braunen Augen wirkten auf seltsame Art beruhigend. »Diese Aggression ist nicht normal!«, sagte sie mit kratziger Stimme.
Samuel deutete auf Badawi, der sich mit einem Fauchen bemerkbar machte. Sein Schwanz peitschte gegen das Gitter. »Er mag das auch nicht.«
»Wo musst du hin?«, fragte die Frau.
Samuel hatte den Eindruck, dass sie ihn prüfend musterte. Er trug Hemd, helle Chinos und neue Schuhe, die ihm Kata gekauft hatte. Vielleicht war das noch nicht lässig genug. Sein Onkel sagte immer, dass die Leute in Deutschland keinen Sinn für Mode hätten und vor allem Männer dumm anglotzten, wenn sie nicht in Trekkinghosen zum Supermarkt gingen.
»Zur … zur Haltestelle«, sagte Samuel. Ihm fiel der Name nicht mehr ein. Er hatte ihn in seinem Handy gespeichert. Es war irgendwo in der Nähe der Haupteinkaufsstraße, das hatte er im Internet gesehen. Er zog das Handy heraus. Die Frau winkte ab.
»Die S-Bahnen fahren nicht mehr. Auch nicht die Busse.« Sie beugte sich hinunter zu Badawi. »Die Menschen sind verrückt. Sie drehen durch, wenn nicht alles nach Plan läuft. Sie haben verlernt zusammenzuhalten. Jeder kämpft für sich.«
Badawi kam augenblicklich zur Ruhe. Er drückte sich gegen das Gitter und ließ sich das Fell kraulen. So zutraulich zeigte er sich sonst nicht mal unter normalen Umständen. Die Finger der Frau sahen entzündet aus. Vielleicht eine Allergie gegen Putzmittel.
»Gibt es noch eine andere Möglichkeit, wie man in die Stadt kommt?«, fragte Samuel.
»Fliegen.« Die Frau lachte. Das Dröhnen eines startenden Flugzeugs übertönte sie. Sie blickte sich um. An einen Betonpfeiler gelehnt stand ein dunkelhaariger junger Mann mit weit geöffnetem Hemd, lässig rauchend, als würde ihn das Chaos nichts angehen. »Warte kurz«, bat die Frau und verschwand in der
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