One: Die einzige Chance (German Edition)
wenn da draußen alles okay wäre. Es braut sich was zusammen. Die Märkte sind verunsichert.«
»Sind sie das nicht immer, wenn du Überstunden machst? Ich geh jetzt ins Bett. Bin hundemüde.«
Sein Vater ließ resigniert die Schultern hängen. »Hast du wenigstens eine Anlaufstelle, wenn du in Frankfurt ankommst? Mit Jetlag nach so einem langen Flug ist nicht zu spaßen.«
»Ich kann die ersten Tage bei einer Bekannten übernachten.«
»Die du nur übers Internet kennst.«
»Ja, die ich übers Internet kenne. Gut kenne!«
Sein Vater runzelte die Stirn und streckte ihm einen gefalteten Notizzettel entgegen. »Sollte es nicht klappen, kannst du bei einem Studienfreund von mir übernachten. Ist nur für den Notfall.«
»Den Notfall«, stöhnte Samuel kopfschüttelnd und steckte den Zettel ein.
»Vielleicht ist es der falsche Zeitpunkt«, sagte Vincent ruhig. »Aber ich würde dir gerne etwas erklären. Etwas, das mit meiner Arbeit und meinem Studium zu tun hat.«
»Anekdoten.« Samuel atmete tief ein. »Mitten in der Nacht? Hast du neue Argumente gegen mein BWL-Studium gesammelt?«
»Nein. Es ist …«
Samuel warf einen Blick auf Kata. Sie hatte zu schnarchen begonnen. »Eines kann ich dir mit Sicherheit sagen: Ich werde an meinem Geburtstag in London sein und ich würde mich wirklich freuen, wenn du auch dabei wärst. Ich bin nicht böse, dass du heute nicht bei der Abschlussfeier warst, weil du die Leute nicht magst. In gewisser Weise kann ich es sogar verstehen, aber mein Geburtstag ist etwas anderes. Ich würde mich sehr freuen, wenn du nachkommst.« Samuel drehte sich von seinem Vater weg und versuchte Kata aufzurichten. Ihr schlaffer Körper war kaum zu bewältigen. Schließlich schob er seine Arme unter ihren Rücken und ihre Beine und trug sie nach oben. Auf der Empore angekommen, außer Atem, blieb er kurz stehen.
»Gute Nacht, mein Junge«, rief sein Vater.
Samuel blickte zurück. »Paps, bringst du mich morgen zum Flughafen?«, fragte er versöhnlich.
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Das kann ich noch nicht sicher sagen. Aber vielleicht können wir zusammen frühstücken.«
Vier
Hongkong | 26 Grad | Bewölkt
Bevor die Stelle kam, an der die Kugel sein Herz traf, schreckte Samuel aus dem Schlaf hoch. Das Letzte, was er hörte, war der spitze Schrei einer Frau. Ein hoher Ton, der in den Ohren zerrte und langsam abklang, bis es sich anhörte, als würde man mit hohlen Händen das Meeresrauschen einfangen. Diesmal war er nicht im Traum gestorben. Kein lauwarmes Blut, das durch seine Finger sickerte. Kein neuer Strich auf seiner imaginären Liste. Es wäre der siebte gewesen. Sieben Leben, dachte er, wie eine Katze. Badawi schnurrte vom Fußende des Bettes in seine Richtung. Ein unkontrolliertes Zittern lief über sein Fell. Eigentlich war der alte Herr besser dran als er. Wenn Samuel richtig gezählt hatte, hatte er erst zwei Leben verbraucht. Eines beim unachtsamen Überqueren der Straße und ein weiteres, als er sich im Größenwahn einem Straßenhund entgegengestellt hatte. Jetzt humpelte er und konnte nur noch zweidimensional sehen, und obwohl er keine Augenbinde trug, erinnerte sein Anblick an den holzbeinigen Piraten aus irgendeiner Zeichentrickserie, dessen Namen Samuel ums Verrecken nicht einfallen wollte. Das war immer so. Kaum hatte er einen Film gesehen oder einen Song gehört, hatte er den Titel schon wieder vergessen. Seit einem halben Jahr schleppte Badawi nur noch kranke Mäuse an. Halb verhungert gabelte er sie irgendwo auf und tat so, als hätte er sie bei einer nächtlichen Verfolgungsjagd durch den Garten gestellt. Er konnte mit der Angeberei nicht aufhören. Obwohl er schon immer ein lausiger Jäger war. Samuel wusste, dass er bald sterben würde. Sieben Leben waren eben doch nur ein Märchen. Sein stumpfer Blick, die trägen Bewegungen – alles deutete auf sein Ende hin. Vielleicht wurde Samuel deshalb seit vier Wochen von diesen Albträumen heimgesucht. Vielleicht wollte ihn seine Seele darauf vorbereiten, wie es sein würde, Badawi zu verlieren, seinen treuen Begleiter. Dem Kater für den Flug ein Beruhigungsmittel zu geben, sei zu gefährlich, hatte der Tierarzt gesagt. Samuel hoffte, dass er ihn trotzdem irgendwie in die Transportbox kriegen würde. Er hatte dafür extra eine Packung getrocknete Garnelen gekauft, obwohl er den Gestank nicht ausstehen konnte. Aber ohne Badawi wollte er auf keinen Fall von hier weggehen. Seit er ein kleines Kind gewesen war, hatte ihn
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