One: Die einzige Chance (German Edition)
hatte ihm sein Vater neben das Geschenk gelegt. Das war seine Art, sich für die Streitereien der letzten Wochen zu entschuldigen. Der dunkelhaarige Mann wirkte irritiert. Wahrscheinlich hatte er nicht häufig minderjährige Gäste mit unbegrenztem Kreditrahmen.
»Für … für Sie allein?«, hakte er nach.
»Ja«, sagte Samuel. »Für mich allein. Das Zimmer kann auch klein sein.« Kann auch klein sein. Wieso hatte er das schon wieder gesagt? Er wollte kein kleines Zimmer. Er wollte ein großes Bett, eine warme Dusche, schlafen und vergessen.
Der Mann beugte sich nach vorne, um über den Schalter zu sehen. »Ist das ein Tier?«, fragte er und rümpfte die Nase.
Was sollte es sonst sein? »Ein Tiger«, versuchte Samuel die Lage zu entschärfen.
»Tut mir leid. Haustiere sind bei uns nicht gestattet.«
»Wieso nicht?«
»Anweisung des Managements. Allergien. Vor allem bei Katzen. Hunde sind eingeschränkt erlaubt.«
»Hunde?«
»Ja, Hunde.«
Samuel stieß einen tiefen Seufzer aus. »Kann man da keine Ausnahme machen? Sie können mir doch ein Zimmer geben, das Sie sonst nicht loskriegen.«
»So etwas haben wir nicht«, sagte der Mann sichtlich pikiert. »Ich könnte Ihnen höchstens anbieten, das Tier über Nacht in die Abstellkammer zu schließen.«
»Nein, das … das geht nicht. Badawi ist fremd hier!« Samuel wurde laut. Er schaute sich in der Lobby um. Der Polizist stand auf und verschwand humpelnd nach draußen. Zur Not musste Samuel eben auf einem der Sessel schlafen. Hauptsache, er konnte endlich die Augen schließen. Vor lauter Müdigkeit war ihm jetzt auch noch kalt.
»Sie werden verstehen«, sagte der Mann, als er seinen Blick aufschnappte, und zog seine Krawatte zurecht. »Die Geschäftsleitung ist mit so etwas nicht einverstanden. Selbst unter den gegebenen Umständen. Da kann ich nichts machen.« Er zuckte die Schultern und wandte seinen Blick dem Bildschirm zu, der in den Tresen eingelassen war. Sein Mund verzog sich zu einem waagrechten Strich. Mit mahlenden Kiefern griff er zum Telefonhörer. »Das Buchungsprogramm hat sich schon wieder aufgehängt! Bitte kümmern Sie sich umgehend darum. Wir erwarten später noch Gäste. Das ist doch kein Hexenwerk.« Er legte auf und wandte sich wieder Samuel zu. »Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein? Unser Restaurant hat bis Mitternacht geöffnet. Wenn Sie dort dinieren möchten, gerne. Mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten.«
Ein hoher Glockenton kündigte den Fahrstuhl an. Ein schwarzhaariger Mann im sportlichem Sakko trat heraus und grüßte mit freundlichem Nicken. Samuel grüßte automatisch zurück. Er sah dem Mann nach, der mit federnden Schritten die Lobby durchquerte und im Restaurant verschwand. Hunger hatte er zwar auch, aber er würde mit Sicherheit am Tisch einschlafen.
»Nein, danke!«, sagte Samuel, ohne seine Wut zu verbergen. Dann schnappte er sich seine Sachen und ging zurück auf die Straße.
Acht
Frankfurt | 18 Grad | Bewölkt
(22.19 Uhr) – Einsatzkräfte werden zusammengezogen –
Demonstranten sammeln sich vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank. Vereinzelt fliegen Flaschen. Polizei bringt Wasserwerfer in Position. Es kommt zu Festnahmen maskierter Demonstranten.
(22.23 Uhr) – Situation eskaliert –
Brandsätze werden geworfen. Schlagstöcke kommen zum Einsatz. Polizei setzt Tränengas und Wasserwerfer ein, um die aggressive Menge vom Gebäude der EZB zurückzudrängen.
(22.28 Uhr) – Schüsse lösen sich aus der Menge –
Augenzeugen berichten von einem Polizisten, der von einem Geschoss (vermutlich einer Stahlkrampe) am Hals getroffen wurde und stark blutend am Boden liegt. Wasserwerfer versuchen die Menge zu teilen, um den Verletzten zu erreichen. Schlagstöcke und Gummigeschosse kommen zum Einsatz. Ein gepanzertes Einsatzfahrzeug wird umgestürzt und geht in Flammen auf.
Wieder zugenagelte Schaufenster, Scherben, abgerissene Banner, Holzlatten und Flugblätter. Hier musste einer der Demonstrationszüge durchgekommen sein. NUR FÜR … stand verstümmelt auf einem zerfetzten Flyer. In Gedanken ergänzte Samuel die freie Stelle. Es war wie ein Spiel. Idioten, Mörder, Träumer – ja, vielleicht hieß das fehlende Wort Träumer. Und zum Träumen musste man nun mal schlafen. Kein Schlaf ohne Träume, sinnierte er, wie ein Marihuana-Jünger auf dem Höhepunkt seines Rauschs.
Das verlassene Schlachtfeld glich den Bildern aus den Nachrichten, die sein Vater neulich nachts in seinem Arbeitszimmer
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