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One: Die einzige Chance (German Edition)

One: Die einzige Chance (German Edition)

Titel: One: Die einzige Chance (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Elsäßer
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angeschaut hatte. Samuel hatte in das Zimmer hineingespäht und gesehen, wie Vincent kopfschüttelnd und Cognac trinkend in seinem Sessel hockte. »Da habt ihr’s nun, ihr Idioten!«, hatte er gegrummelt und dabei ausgesehen, als würde er jeden Moment vom Sessel aufspringen und mit der Faust in den Bildschirm schlagen. Dieser Satz war Samuel in Erinnerung geblieben. Idioten. Ein Wort, das sein Vater eigentlich nur benutzte, wenn es in der Nachbarschaft wieder darum ging, wie man sich gegen Immobilienspekulanten wehren konnte, die ein Luxushotel über der Bay planten. Sonst behielt er das meiste, was ihn beschäftigte, für sich.
    Sein Vater stand damals auf, schlurfte hinaus auf die Terrasse und stellte sich in den harten Monsunregen, als wollte er sich in irgendeiner Weise bestrafen. So etwas Merkwürdiges hatte er noch nie getan. Samuel blieb stehen und starrte auf den Fernseher, wo ein neuer Beitrag startete.
    »Vor allem junge Menschen sind in den letzten Monaten auf die Straßen gegangen, um gegen den Sparkurs und die Vetternwirtschaft in ihren Ländern zu protestieren. Immer mehr Jugendliche sind von fehlenden Ausbildungsplätzen und Arbeitslosigkeit betroffen«, sagte eine junge hübsche Frau, die so perfekt ausgeleuchtet war, dass der Hintergrund, das bunte Knäuel aus skandierenden Menschen, Wasserwerfern und Polizisten, wie eine Plakatwand erschien, auf der für einen neuen Endzeitfilm geworben wurde. »Nicht nur in Europa regt sich Widerstand«, fuhr die Frau mit angestrengter Ernsthaftigkeit fort. »Auch in den USA kam es nach der Schließung einiger Universitäten zu Protesten.«
    Schnitt auf den Times Square in New York. Die Frau machte eine Pause und redete dann weiter. Immer wieder Pausen. Nach einzelnen Worten, am Ende jedes Satzes. Betroffenheit und Entsetzen schimmerten durch, weniger Anteilnahme. »Tausende Studenten haben sich am Times Square ausgezogen und aneinandergekettet. Wie Sklaven ziehen sie unter rhythmischem Gesang durch die Stadt und befestigen sich an Gullydeckeln und Hydranten, um ihrem Unmut Luft zu machen, und bringen damit den Verkehr zum Erliegen. Der Bürgermeister beruft ein Schnellgericht ein.«
    Jetzt war Samuel in Frankfurt und wunderte sich darüber, selbst Teil einer solchen Kulisse zu sein. Nur dass es hier im Augenblick weder Reporter noch Demonstranten gab. Einzig das abklingende Geräusch von Böllerschüssen und Lautsprecherdurchsagen erinnerte daran, dass zwischen den Hochhausschluchten noch gekämpft wurde.
    Er kam an einem Hoteleingang vorbei, den man mit Bauzäunen und Stacheldraht verbarrikadiert hatte. Vor dem Durchgang standen Sicherheitsleute, die ihn feindselig musterten, also ging er weiter. Seine Bargeldreserven waren ohnehin aufgebraucht und das Katzenverbot mit Sicherheit kein Einzelfall. Er ging weiter, einfach immer geradeaus, die Augen halb geöffnet. Irgendwo musste es doch einen Park geben. In jeder Stadt gab es einen Park. In Hongkong, in New York, in Singapur. Den nächsten Menschen, dem er begegnete, würde er nach dem Weg fragen. Auf einer Parkbank unter Bäumen zu schlafen erschien ihm wie das Paradies. Sollten sie ihn doch ausrauben. Hauptsache, er konnte schlafen. Schlafen und vergessen. Den Toten. Das Blut unter seinen Fingern. Das Röcheln. So schleppte er sich eine Weile mit gesenktem Blick durch die Stadt. Er dachte an Delfine, die mit einer Gehirnhälfte schlafen konnten, während die andere wach blieb. Vielleicht konnte er das auch. Seine Beine jedenfalls bewegten sich anscheinend ohne sein Zutun. Als er an eine Kreuzung kam, wurde er von lautem Geschrei und dem Geräusch berstender Scheiben empfangen. Das Heulen unzähliger Martinshörner wurde zwischen den gläsernen Hochhausfassaden hin- und hergeworfen und riss ihn aus dem Halbschlaf. Seltsamerweise musste Samuel dabei an einen Tsunami denken. An eine Welle, die sich unbarmherzig ins Landesinnere wälzte und dabei alles zerstörte, was sich ihr in den Weg stellte. In der Discovery Bay hatte man sie einmal nach einem Seebeben evakuiert. An einem regnerischen Tag. Einige Leute waren mit ihren Golfwagen im Schlick stecken geblieben. Aber dann hatte es Entwarnung gegeben und jemand hatte spontan ein Fest arrangiert.
    Aus den Seitenstraßen brachen fliehende, schreiende Menschen heraus. Polizisten mit Helmen, Schlagstöcken und Schutzschilden jagten vermummte Gegner. Es sah aus wie Räuber und Gendarm. Seltsam unecht, ein Spiel von Erwachsenen, denen man das Spielen zu lange verboten

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