One: Die einzige Chance (German Edition)
hatte. Bevor Samuel die Gefahr bewusst wurde, trampelte eine unvorstellbare Menschenmenge auf ihn zu, angetrieben von gepanzerten Einsatzwagen mit brüllenden Motoren. Wasserwerfer räumten die Flüchtigen aus dem Weg wie Playmobilfiguren. Polizeiautos nutzten die Schneisen zur Durchfahrt. Samuel vernahm ein seltsames Zischen. Dann stieg Rauch auf, er hörte hustende, röchelnde Menschen. Noch bevor er sich in Sicherheit bringen konnte, hatte ihn die Tränengaswolke erreicht. Schnell öffnete er die Transportbox, zog Badawi heraus und suchte Schutz hinter einem breiten Betonpfeiler. Eine Explosion folgte. Durch tränenverschleierte Augen sah Samuel ein Auto in Flammen aufgehen. In seinen Lungen brannte es. Er spürte Badawis Atem an seinem Hals, eine Kralle bohrte sich schmerzhaft in seinen Arm. Er klemmte den Rucksack so gut es ging unter den Arm. Die Schreie wurden lauter, greller, ängstlicher. Metall krachte auf Stein. Ein Polizist spähte um die Ecke und blickte ihm direkt ins Gesicht. Sein Helm war mit gelber Farbe verschmiert. Samuel sah den Hass in den Augen des Mannes aufblitzen. Aber auch Angst. Freund oder Feind? Selbstschutz oder Angriff? Abwarten oder zuschlagen? Der Mann schielte an ihm vorbei und nickte wie in Zeitlupe. Ein Signal. Für wen? Zu spät. Samuel spürte einen heftigen Schlag auf seinem Hinterkopf. Ein Blitz, ein letztes Aufflackern – und er krachte bewusstlos auf den Boden. Stimmen, Schreie, alles verschmolz zu einem undurchdringlichen Geräusch, das langsam ausblendete, bis nur noch statisches Rauschen übrig war.
(22.59 Uhr) – Stromausfälle legen Sicherheitssysteme lahm –
Europaweit kommt es zu Stromausfällen in den Metropolen. Nach Festnahmen in Frankfurt geht die Polizei von einem international agierenden Hackerring aus. Mehrere Online-Computerspiele sollen im Zusammenhang mit Hackerangriffen und gestohlenen Daten stehen.
(02.19 Uhr) – Datenpanne in Großbank –
Nach einer Datenpanne in einem Rechenzentrum spucken Geldautomaten in Frankfurt, London und Rom Geldscheine aus. Der vorläufige Schaden beläuft sich auf über zehn Millionen Euro.
(07.19 Uhr) – Polizei meldet Hunderte Verhaftungen –
Nach der Verhaftung mehrerer Hundert Jugendlicher in ganz Europa, drohen Hacker mit weiteren Angriffen und rufen zum Boykott der Banken auf. Pläne der Regierungen, Spareinlagen erneut zu besteuern, führen zu teils chaotischen Szenen vor Bankautomaten. Ein achtzigjähriger Mann erlitt einen Herzinfarkt.
Mit neun Jahren musste Samuel das erste Mal mit seinen Eltern umziehen. In die Schweiz, nach Zürich. Diese Stadt hatte sich für ihn nie fremd angefühlt. Es war Sommer gewesen und er fand schnell neue Freunde. Auch Badawi mochte das Haus mit dem großen Garten. Zwar gab es in der Nachbarschaft zwei Jagdhunde namens Zeus und Apollo, die ihm anfangs das Leben schwer machten, aber damals war er noch flink, so flink, dass er sogar ab und zu eine Maus erwischte. Einmal auch eine kranke Maus mit eitrigem Ausschlag. Samuel tötete sie mit einem Stein, um sie von ihrem Leiden zu erlösen. Davon träumte er die nächsten Jahre. Badawi hatte zugesehen.
Zu der Zeit hatte sich Emilia bei ihnen als Haushälterin vorgestellt. Samuel mochte sie von Anfang an. Seine Eltern waren sich nicht sicher gewesen, weil sie das Alter von Emilia falsch eingeschätzt hatten. Die tiefen Furchen in ihrem Gesicht ließen sie um zehn Jahr älter aussehen. Samuels Mutter hatte ihm später einmal erklärt, dass sie viel durchgemacht hatte und deshalb oft diesen traurigen Blick trug, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Was genau vorgefallen war, hatte sie ihm nie erzählt. Vielleicht weil sie es selbst nicht wusste. Emilia redete nie über ihre Vergangenheit. Sie sagte immer, dass man sein Leben nur in der Gegenwart verbringen sollte. Stunde für Stunde, Tag für Tag. Zu ihrem Geburtstag durfte man ihr nicht gratulieren, weshalb Samuels Eltern ihr immer irgendwann im Sommer etwas Besonderes schenkten. Emilia hatte diese spezielle Art, Samuel aufzuwecken. Sie schlich in sein Zimmer, öffnete das Fenster, ließ langsam die Jalousien nach oben und wedelte mit einem Tuch die frische Morgenluft herein. Manchmal summte sie dazu eine Melodie, die sie selbst erfunden hatte. »Musik und Töne sind in jedem von uns. Doch manche Menschen wollen sie nicht mehr hören.«
Als Samuel jetzt die Lider hob, hörte er Musik. Eine Melodie, schön und traurig zugleich. Er spürte Hände, die ihn an der Taille fassten, und er hörte
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