One: Die einzige Chance (German Edition)
stoßen, schätzte er ziemlich gering ein. Er kam an eine Kreuzung. Die Ampeln blinkten. Demonstranten mit hochgeklappten Guy-Fawkes-Masken traten aus einem Hauseingang und huschten über die Straße. In Hongkong hatte man die Vendetta-Masken nach einem Attentat verboten und bei einer Säuberungsaktion sämtliche Marktstände geschlossen, die sich nicht daran hielten.
Samuel blieb stehen. Einer der Demonstranten fing seinen Blick auf und kam zu ihm herüber. »Was ist mit dir?«, sagte der Junge aggressiv. Über den Schriftzug von Abercrombie & Fitch auf dem hellen T-Shirt zog sich eine Blutspur. Ein Kreuz. Aus der Nähe erkannte man, dass es aufgesprüht war. So sahen also Antikapitalisten aus, dachte Samuel. Der Junge blickte auf die Transportbox, dann wieder zu Samuel. »Willst noch schnell zu Mami abhauen, bevor die Bude brennt, was?« Er machte einen Schritt auf Samuel zu. Samuel wich zurück. Wenn es etwas gab, wozu er jetzt keine Lust hatte, dann, sich zu prügeln.
»Willst du mir eine reinschlagen?«, fragte er gelangweilt, stellte die Box ab und breitete seine Arme aus, als erwarte er den ersten Schlag. »Los! Ich bin der Klassenfeind. Hau drauf, wenn es dir dann besser geht.«
»Der Typ ist auf Drogen«, sagte ein anderer. »Komm, wir müssen. Die andern warten nicht ewig.«
»Spinner!«, zischte der Junge, klappte seine Maske herunter, rempelte Samuel im Vorbeigehen an und folgte seinen Kumpels die Straße hinunter.
»Depp«, murmelte Samuel vor sich hin und ging weiter. Er kam an Geschäften vorbei, die man mit Brettern verbarrikadiert hatte. Der Boden war übersät mit Glassplittern, abgerissenen Transparenten und Flugblättern. Die Schaufenster der Juweliere waren leer geräumt. In der Luft hing ein Hauch von Benzin. Als Samuel die nächste Kreuzung erreichte, blieb er erleichtert stehen. Zwei Straßen weiter konnte er die Leuchtschrift eines Hotels erkennen. Das Hilton. Zwar hatte er sich vorgenommen, vorwiegend in Hostels und bei Privatleuten zu wohnen, die Zimmer übers Internet vermieteten, aber nach dem, was in den letzten Stunden vorgefallen war, kam ihm dieses Vorhaben lächerlich vor. Er war Zeuge eines Mordes gewesen. Zwar hatte er die Tat selbst nicht gesehen, aber die Minuten danach waren schrecklich genug gewesen. Vielleicht war der Typ, der über die Transportbox gestolpert war, der Mörder. Das würde auch erklären, weshalb er so langsam davongefahren war. Samuel hielt den Atem an und spürte, wie ihn ein Adrenalinstoß durchfuhr. Natürlich! Wahrscheinlich hatte der Mann überlegt, ob er auch Samuel aus dem Weg schaffen sollte. Den Zeugen, der ihn vielleicht überführen könnte. Aber nur theoretisch. Samuel hatte das Gesicht des Mannes zu kurz gesehen, um genaue Angaben zu machen. Die Hautfarbe war ihm dunkel vorgekommen und die Nase relativ klein. Bei den schlechten Lichtverhältnissen konnte er sich aber auch getäuscht haben. Mit einem Schaudern und etwas zu großen Schritten lief er auf das Hotel zu.
Zehn Minuten dauerte es, bis ihn die drei Männer vom Wachdienst in die Lobby des Hotels vorließen. Wie ein Mantra wiederholte Samuel, dass er nicht zu den Demonstranten gehörte. Auch wenn er in den durchnässten Klamotten vielleicht so aussah. Schließlich leerte er den Inhalt seines Rucksacks vor den beiden Männern aus, um ihnen zu zeigen, dass er ein harmloser Tourist war. Das originalverpackte Deo von Hugo Boss kassierten sie mit fadenscheinigen Argumenten ein. Als Samuel sich weigerte das Geschenk seines Vaters zu öffnen, drohte die Situation zu eskalieren, doch Samuel hatte noch zwei Fünfzig-Dollar-Scheine eingesteckt, die ihm schließlich den Zutritt verschafften.
In der Lobby war nicht viel los. Ein Polizist in Kampfmontur hing mit schmerzverzerrtem Gesicht in einem der Clubsessel, drückte sich einen Eisbeutel auf die Stirn und bellte wütend in sein Funkgerät.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann an der Rezeption. Aus irgendeinem Grund hatte Samuel plötzlich das Gefühl, hysterisch lachen zu müssen. Nur schwer konnte er die Antwort, die ihm durch den Kopf schwirrte, zurückhalten. Löschen Sie die letzten Stunden , wollte er in lässiger James-Bond-Manier sagen, entschied sich aber dagegen und meinte freundlich: »Haben Sie noch ein Zimmer frei?«
Der Mann nickte. Sein Misstrauen war nicht zu übersehen. Samuel zog sein Portemonnaie heraus und klappte es auf. Zwei Kreditkarten. Die eine platinfarben, die andere schwarz. Die schwarze Kreditkarte
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