One: Die einzige Chance (German Edition)
endlich an. Ich will hier keine Wurzeln schlagen.«
Samuel wählte und wartete auf das Freizeichen. »Könntest du mich nächstes Mal eventuell warnen, bevor du ausrastest? Ich möchte …« Er brach ab. Erst ein Knacken in der Leitung, dann ein Rascheln. »Hallo«, sagte Samuel. »Ist da jemand?« Zuerst hörte er nichts, dann ein leises Zischeln. Fabienne setzte zu sprechen an, aber Samuel brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er meinte, ein Röcheln zu hören, dann ein Pfeifen, das sich immer weiter entfernte und von einem gleichmäßigen Rauschen überdeckt wurde. »Ich glaub, die Telefonanlage hat sich aufgehängt. Klingt wie bei uns zu Hause. Ich schau mal, ob ich so reinkomme.« Sein Ohr klebte immer noch am Handy. Jetzt hörte er ein Geräusch, das wie ein tropfender Wasserhahn klang und schneller wurde.
»Beeil dich. Ich will heut noch zurückkommen.«
»Mir hätte der nächste Bahnhof genügt.«
»War nicht so gemeint. Muss nur noch was erledigen.«
»Ich schau kurz nach, ob er zu Hause ist, sonst warte ich woanders. In einem Café oder so. Bin gleich zurück.« Samuel sprang aus dem Wagen. Obwohl Kyoti Fabienne offensichtlich betrogen hatte, wollte sie wieder in die Zentrale. Hatte sie denn gar keine Selbstachtung? Wie er sie einschätzte, würde sie ihrem Freund den Ausrutscher vergeben, wenn der sie um Verzeihung bat.
Über einen Treppenaufgang neben der Tiefgarageneinfahrt gelangte Samuel auf eine höhere Ebene. Er hörte den schrillen Klingelton von Fabiennes Handy hinter sich. Wahrscheinlich war das schon der Guru höchstpersönlich. Wahrscheinlich hatte er sich eine Strategie zurechtgelegt, wie er sie wieder einwickeln konnte. Manche Typen erlaubten sich den größten Mist und kamen immer davon.
Samuel stand nun in einem akkurat angelegten Garten mit Teich, Bänken und niedrigen Hecken. Dahinter erhob sich ein vierstöckiges Gebäude, das den Garten in U-Form eingrenzte. Die Balkone sahen alle gleich aus. Metall und Glas. Sitzmöbel aus dunklem Holz. Ein breiter Weg führte zu einem Durchgang in der Mitte des Halbkreises, dessen beschichtete Glasfront bronzefarben leuchtete. Kyoti hatte den Zahlencode für die Wohnung an die Adressdaten gefügt und mit freundlichen Grüßen versehen. Wahrscheinlich wollte er damit klarmachen, dass Samuel ab jetzt unter Beobachtung stand. Ein falsches Wort zur Polizei oder einem anderen und sie würden ihn jagen und … Er stockte, ja, vielleicht würden sie ihn auch töten. Die dunklen Augen von Kyoti hatten nicht ausgesehen, als würde er nur bluffen.
Samuel starrte in die Überwachungskamera neben dem Eingang und winkte trotzig, bevor er den Code eingab. Sollten sie ihn doch verfolgen. Er hatte nicht vor, jemandem von dieser revolutionären Zelle zu erzählen. Auch ohne sein Zutun würde man sie früher oder später erwischen.
Im Treppenhaus war es still. Vor einer Wohnungstür standen aufgereiht mehrere Schuhpaare. Samuel lächelte, als er die winzigen Turnschuhe eines Kindes erblickte. Sie waren vorne abgestoßen. Wahrscheinlich vom Bobbycarfahren. Das Bobbycarfahren war fest mit den Erinnerungen an seine Kindheit verknüpft. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Aus Höflichkeit klopfte er dagegen und wartete. Als sich drinnen nichts rührte, drückte er die Tür vorsichtig auf. Noch während sie geräuschlos nach innen schwang, dachte er an Justus, wie er früher mit ihm im Garten Fußball gespielt hatte. Stundenlang. Samuel wollte am liebsten im Tor stehen. Elfmeterschießen fand er besonders spannend und er liebte es, dem Ball hinterherzuhechten. Justus kommentierte jeden Schuss wie die Leute aus dem Radio. »Und er läuft an … genialistisch!«
Der Satz hallte durch Samuels Kopf, während er den Flur betrat und spürte, wie sein Fuß gegen einen Widerstand stieß. Wahrscheinlich gab es dieses Wort gar nicht, dachte er noch, als er sich wie in Trance über das aufgedunsene Gesicht seines Onkels beugte. Aus dem weit aufgerissenen Mund kam nicht das leiseste Geräusch. Keine Silbe, rein gar nichts. Er atmete nicht mehr.
Sein Onkel war tot.
Samuel wollte schreien, aber er konnte nicht. Er wollte wegrennen, aber seine Stimme versagte. Er sank neben der Leiche auf den Boden und kniff die Augen zusammen, als wollte er seinen Onkel anbrüllen, dass er gefälligst mit dem Mist aufhören sollte. Nach einem Foul hatte Justus sich manchmal tot gestellt. Mit offenen Augen. Für ein Kind gab es den Tod nicht mit offenen Augen. Für ein Kind war der
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