One: Die einzige Chance (German Edition)
ausgeschlafen?«, fragte sie, jetzt wieder freundlich. Mal sehen, wie lange die Phase diesmal anhielt.
»Sorry, muss der Zeitunterschied sein. Aber da unten kriegt man gar nicht mit, wenn’s hell wird.«
»Kein Problem.« Sie musterte seine Klamotten. Er trug ein Hawaiihemd und Kakishorts, die bis zu seinen Knien reichten und etwa drei Nummern zu groß waren.
»Interessant, dein neuer Stil. Der lässige Surferlook steht dir.«
»Ah ja.« Samuel hob einen Mundwinkel. Er wusste, dass die Klamotten ziemlich daneben aussahen. Aber es war ihm im Moment egal. »Die anderen Sachen haben nicht gepasst.«
»Alles gut.« Sie lächelte. »Wie geht es deinem Kopf? Tut’s noch arg weh?«
»Alles okay.«
»Und deinem Kater?«
»Was? Ach so, Badawi. Dem geht’s auch gut.«
Fabienne schaute auf das Handy in Samuels Hemdtasche. »Funktioniert es wieder?«
»Ja. Danke.«
»Und jemanden erreicht?«
»Nein. Ist überall besetzt. Komisch.«
»Das kann Pablo leider nicht ändern. Die Anlagen haben noch mit ein paar anderen Virenangriffen zu kämpfen. Gibt immer Leute, die auf einen fahrenden Zug aufspringen wollen. Aber das wird bestimmt bald wieder repariert sein.«
»Wo ist dein Freund hin?«, fragte Samuel unvermittelt.
»Besprechung«, antwortete Fabienne knapp. »Soll ich dich jetzt zu deinem Onkel bringen oder hast du andere Pläne?«
»Der nächste Bahnhof genügt auch. Die Züge fahren doch wieder?«
»Teilweise. Können ja schauen, was geschickter ist. Hierbleiben willst du ja nicht, oder?«
»Nein.«
»Okay. Wegen gestern …«, begann Fabienne, auf dem Weg zum Wagen. In der Fabrikhalle wurden Transporter mit eingeschweißten Paletten beladen. Samuel glaubte das Logo von Ikea zu erkennen. Er wollte aber nicht fragen, was es damit auf sich hatte. Je weniger Details er kannte, desto geringer war die Gefahr, sich zu verplappern, wenn die Polizei wissen wollte, wo er die letzten zweiunddreißig Stunden gesteckt hatte. Er war kein guter Lügner.
»Kyoti hat das nicht so gemeint. Er würde dich nicht töten. Das ist seine Art zu reden. Eigentlich verabscheut er Gewalt. Ist nur wichtig, dass du keinem erzählst, was du hier gesehen hast. Den Ort wirst du ohne Plan nicht wiederfinden. Es ist nicht der stillgelegte Flughafen, falls du das glaubst.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Wozu braucht ihr das Fernsehstudio?«, fragte Samuel. Auf dem Weg zur Zentrale hatte er vorhin die falsche Tür erwischt und war in einem grell erleuchteten Raum mit Kameras und Scheinwerfern gelandet.
»Für unsere Nachrichten. Die halbe Welt hängt vor der Glotze oder auf YouTube und lässt sich berieseln. Wir bauen die Beiträge der Nachrichtenredaktionen etwas um oder produzieren selber welche und versehen sie mit Millionen Klicks. Selbst die großen Sender benutzen unser Material, weil sie es für authentisch halten. Es ist so leicht, die Wirklichkeit zu manipulieren.«
»Und die Waffen? Wozu braucht ihr die?«
»Du … du hast sie gesehen?«
»War ein Zufall. Ich wollte mir noch mal Klamotten holen, da hab ich mich wohl in der Tür geirrt.« Er zuckte mit den Achseln.
»Sind nur zur Verteidigung. Sollte jemand das hier entdecken, werden wir uns wehren müssen. Das ist unser gutes Recht.« Sie öffnete die Fahrertür und zog den Schal aus dem Handschuhfach.
»Muss das wirklich sein? Ich …«
»Ist nur zu deinem eigenen Schutz. Los.« Fabienne verband ihm die Augen, dirigierte ihn vorsichtig auf den Beifahrersitz und schnallte ihn an. »Badawi«, sagte er, »die Box steht noch draußen.«
»Keine Panik. Der Kater kommt natürlich mit.«
Die Finsternis war beunruhigend. Beunruhigender als beim letzten Mal. Jedes Geräusch klang um ein Vielfaches lauter. Samuel meinte, den Geruch von Sägespänen zu riechen.
»Alles gut«, sagte Fabienne, nachdem sie den Motor angelassen hatte. »Der Kater ist an Bord.« Sie fuhr langsam aus der Fabrikhalle. Regentropfen trommelten gegen das Dach. Dieses Geräusch begleitete sie die ersten Kilometer. Sie redeten nicht. Als Fabienne ihm den Schal von den Augen zog, war er darauf gefasst, von der Helligkeit geblendet zu werden, aber der Himmel war dunkel. Anscheinend hatte die Abenddämmerung bereits eingesetzt. Fabienne telefonierte mit Kyoti. Sie gab sich wortkarg. »Ja … nein … warum?« An einer Tankstelle blieb sie stehen, stieg aus dem Wagen und sagte, dass sie gleich wiederkommen würde. Die Tankstelle war geschlossen. An den Zapfsäulen flatterten handgeschriebene Blätter:
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