One: Die einzige Chance (German Edition)
Lieferung voraussichtlich Dienstag.
Die digitalen Preistafeln zeigten utopische Beträge. Erneut versuchte Samuel, seine Eltern zu erreichen, aber er kam nicht durch. Immer nur das nervige Besetztzeichen. Wenigstens ging das Internet wieder. Zwar konnte er sich nicht in seinen Account einloggen, aber die Website des Flughafens ließ sich öffnen. Er wurde von einer blinkend roten Texttafel begrüßt, die die vorübergehende Sperrung bekannt gab. Was kümmerte ihn das überhaupt? Solange er nicht bei der Polizei gewesen war, konnte er ohnehin nicht ausreisen. Fabienne stieg stumm wieder in den Wagen. Die Überreste ihres Make-ups waren verschmiert. Dunkle Schlieren glänzten unter ihren roten Augen. Sie startete den Wagen und kehrte zurück auf die Straße.
»Kyoti ist ein Wichser«, fauchte sie, als sie einen Kreisverkehr durchquerten und in ein dicht besiedeltes Wohngebiet abbogen. Auch hier waren kaum Menschen unterwegs. Das Schaufenster eines Bäckers war mit Aufklebern übersät. Silberne QR-Codes. Die Organisation schien tatsächlich überall Anhänger zu haben. »Er kann seine Finger nicht von andern Weibern lassen«, brach es aus Fabienne heraus. Tränen kullerten ihr über die Wangen. Mit einem Mal wirkte sie zerbrechlich und bemitleidenswert.
Samuel reichte ihr ein Taschentuch. »Was ist passiert?«
»Dieses Arschloch hat mich mit einer andern betrogen, das ist los. Er geilt sich daran auf, wenn ihn die Leute anhimmeln. So unrecht hattest du gestern gar nicht. Er führt sich wirklich auf wie ein Sektenguru, der sich alles nehmen kann, was er braucht. Auch wenn er es nie zugeben würde: Es gefällt ihm, wenn die Leute zu ihm aufschauen. Er bekommt glasige Augen, wenn er sieht, wie ihn Programmierer auf der ganzen Welt praktisch anbeten, weil er zusammen mit Pablo Banken und Firmen verarscht.« Sie blickte ihn direkt an. »Hast du eine Freundin?«
»Ja.«
»Und bist du ihr treu?«
»Ja.«
»Das ist gut. Das ist wirklich gut.«
»Bist du eigentlich auch über das Spiel zu der …« Samuel stockte. Er suchte nach dem richtigen Wort. »… Organisation gekommen?«
»Nein, über … über Bekannte. Sie haben mir von One beziehungsweise von den harmlosen Vorläufern des Spiels erzählt. Es gibt verschiedene Sammelpunkte, über die die Leute neugierig gemacht wurden. Du glaubst gar nicht, wie viele Menschen es gibt, die von alledem die Nase voll haben. Sie wussten nur nicht, wo sie mit ihrem Frust hinsollten.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, hielt an einer Ampel und blickte an ihm vorbei auf das Straßenschild. »Und du? Was ist dein Plan?«
»Meine Mutter lebt in London. Ich will eine Zeit lang bei ihr wohnen und dann vielleicht studieren.«
»Was studieren?«
»BWL oder so.«
»Wozu?«
»Weil ich es spannend finde.«
»Spannend. Hab selten eine blödere Begründung gehört. Hast du kein richtiges Ziel? Willst du nichts verändern?«
»Was willst du denn machen? Dir einen Sprengstoffgürtel umschnallen und den Bundestag stürmen?«
»Ich will, dass etwas passiert. Ich will, dass die Menschen wieder Mensch sein dürfen, ohne die Scheißangst im Nacken, sich dieses Leben nicht mehr leisten zu können.« Sie brach ab. »Welche Nummer, hast du gesagt?«
»Zweiundachtzig.«
Fabienne bremste ab, nahm ihr Handy vom Armaturenbrett und tippte darauf herum. Eine Frauenstimme meldete sich mit der Anweisung, an der nächsten Kreuzung zuerst nach links und dann sofort wieder nach rechts abzubiegen. Ein Schlagbaum versperrte ihnen den Weg. »Sackgasse.« Fabienne schüttelte den Kopf. »Die Leute sperren sich selbst ein, um sich den Pöbel vom Leib zu halten. Das ist wie im Mittelalter. Kannst du deinem Onkel kurz Bescheid geben, dass er uns reinlässt, bevor die Tante hinter uns ’nen Herzkasper kriegt?«
Samuel drehte sich um. Die Frau im Wagen hinter ihnen fuchtelte wild mit den Armen.
»Ich kann ungeduldige Leute nicht ausstehen!« Fabienne, legte den Rückwärtsgang ein und stieß mit einem gekonnten Manöver rechts neben die Frau.
Samuel wurde nach vorne gerissen. »Muss das sein?«
»Ja, es muss!« Fabienne ließ die Scheibe herunter, warf der Frau ein gekünsteltes Lächeln zu und wedelte mit den Händen. »Fahren Sie schon, sonst kommen Sie noch zu spät zum Tee.«
Vor lauter Aufregung würgte die Frau den Motor ab. Der Schlagbaum öffnete sich, der Wagen startete und sie schoss in die Einfahrt, dass es beinahe gekracht hätte.
»Dein Onkel«, wiederholte Fabienne. »Ruf
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