One: Die einzige Chance (German Edition)
Unterschied zwischen Konfektionskleidung und Maßanzug zu kennen. »Dieses Messer kommt aus Japan, wurde von Meisterhand gefertigt und wird auch höchsten Ansprüchen gerecht. Ist die Beschenkte eine Frau oder ein Mann?« Sie entfernte den Schutz der Klinge.
»Ein Mann«, antwortete Kayan. »Aber es müsste etwas robuster sein. Das hier erscheint mir zu filigran. Vielleicht sogar von hier.«
»Von hier?« Die Frau blickte ihn fragend an.
»Ich mein, aus Deutschland. Oder aus der Schweiz. Die können das ja auch, Messer herstellen.«
»Natürlich.«
Die Frau verschwand zu einer Vitrine und kam mit einer Auswahl an Messern zurück. Die meisten hatten keinen hölzernen Schaft und die Klingen waren aus einem Stahl mit bläulich schimmerndem Glanz. Er wog eines nach dem anderen in der Hand und hörte nicht zu, als die Verkäuferin über die Vorzüge der unterschiedlichen Modelle referierte, sondern ließ sein Bauchgefühl entscheiden. Das hatte ihn noch nie betrogen. Noch zweimal töten. Noch zweimal der dunklen Seite seiner Existenz gehorchen und dann vergessen. Alles vergessen. Das Blut von den Fingern waschen und zur Ruhe kommen.
Er stand an der Kasse und reichte seine Kreditkarte über den Tresen. Die Frau zog sie durch das Lesegerät und rollte die Augen. »Hängt es bei dir auch?«, fragte sie eine Kollegin, die einige Meter entfernt vor einer anderen Kasse stand. »Haben anscheinend Übertragungsprobleme. EC-Karten gehen im Augenblick besser.« Die Frau lächelte Kayan zu und zuckte mit den Schultern. »Hätten Sie zufällig noch eine andere Karte?«
»Ach so, natürlich.« Kayan öffnete sein Portemonnaie und entschied sich für eine schwarze Karte. Die Frau musterte sie kritisch und drehte sie zwischen den schlanken Fingern.
»Ist keine Kreditkarte«, sagte Kayan.
»Dann schauen wir mal.« Die Frau schob die Karte in das Lesegerät. »Sieht gut aus.« Sie zog es aus der Halterung und stellte es vor Kayan hin. »Ihre Geheimzahl bitte.«
»Meine …« Kayan stockte. Er wusste sie nicht. Nur an die Neun konnte er sich erinnern, aber die anderen drei Ziffern waren aus seinem Gedächtnis verschwunden. Zum Einkaufen benutzte er fast ausschließlich seine Kreditkarten oder Bargeld, das seine Frau immer für ihn abhob und in den Tresor im Wohnzimmer legte. »Einen Augenblick«, sagte er peinlich berührt. Er hatte das Gefühl, rot anzulaufen, als er die Mobilnummer seiner Frau wählte. Um die Uhrzeit musste sie zu Hause sein. Oder war heute das Treffen mit den Leuten vom Fair-Trade-Laden, für den sie die Buchhaltung erledigte? Er war erleichtert, als er ihre Stimme hörte. Sie nannte ihm die simple, vierstellige Kombination und erzählte ihm im nächsten Atemzug davon, dass Amélie Fieber hatte. »Könntest du eventuell einen Tag früher zurückkommen, Darling? Ausgerechnet jetzt hat sich auch noch Anne den Arm gebrochen. So schnell finde ich keinen guten Ersatz.«
»Das … das geht nicht«, sagte Kayan mit zusammengepressten Kiefern, während er die Nummer in das Tastenfeld tippte. Die Verkäuferin reichte ihm die Tüte und er verließ das Kaufhaus. »Ich kann die Leute nicht sitzen lassen. Das Geschäft ist sehr wichtig. Sehr wichtig.«
»Das sagst du immer«, erwiderte seine Frau resigniert. Es war nicht das erste Mal, dass Kayan sie vertrösten musste. Manche Aufträge kamen spontan rein, und er war dafür bekannt, selbst die kniffligsten Fälle zeitnah und zuverlässig zu erledigen. Auf diese Weise konnte er auch sein Honorar selbst bestimmen. Wenn es schnell gehen musste, spielte Geld meist keine Rolle. Dass er den Tag von Amélies Einschulung verpasst hatte und um ein Haar auch ihre Geburt, das war jedoch mit Geld nicht aufzuwiegen. Dieser Stachel saß tief, und in einer Situation wie jetzt kam die Erinnerung an die verheulten Augen seiner Prinzessin wieder hoch und steigerte die Wut auf sich selbst.
Diese Wut explodierte, als er die zerstochenen Reifen an seinem Wagen erblickte. Auf dem Kotflügel prangte ein riesiger Aufkleber mit einem QR-Code. Darüber in silbernen Buchstaben: NUR FÜR VERRÜCKTE.
Dreizehn
Berlin | 22 Grad | Nieselregen
Die letzten zwanzig Minuten hatten sie kein Wort gewechselt. Samuels Augen starrten durch die schwingenden Scheibenwischer hindurch ins Leere. Warum meldete sich sein Vater nicht bei ihm? Was war mit seiner Mutter? Sie musste doch mitbekommen, dass man sämtliche Flüge gestrichen hatte. Bei beiden ging nur die Mailbox ran. Immer nur die Mailbox. Das konnte
Weitere Kostenlose Bücher