One: Die einzige Chance (German Edition)
werden. Was ihr hier tut, ist großartig. Ihr könnt stolz auf euch sein. Wirklich stolz.«
Wirklich stolz? Auf die Chance, die nächsten zehn Jahre zwischen Mördern und Vergewaltigern zu verbringen? Wusste der hagere Mann überhaupt, was Kyoti und seine Gefolgschaft vorhatten? Kannte jeder hier unten den Plan, Europa ins Chaos zu stürzen?
Samuel nickte. Er traute sich nicht zu sagen, dass er nichts mit diesem revolutionären Wahnsinn zu tun hatte.
»Ich schäme mich für meine Generation«, fuhr der Mann fort. »Wir haben uns zu lange an unseren Privilegien festgeklammert, haben die Leute gewählt, die für unser goldenes Gefängnis gekämpft haben, ohne Verantwortung für euch zu übernehmen. Für die kommende Generation, die das alles ausbaden muss.« Er setzte Badawi wieder zurück in die Box. Dann legte er seine schwielige Hand auf Samuels Schulter. »Ihr könnt stolz auf euch sein, dass ihr eure Zukunft aufs Spiel setzt, um die Menschen wachzurütteln. Sie müssen endlich kapieren, dass man ihnen etwas vormacht.«
Samuel hatte erneut genickt, und er nickte auch jetzt im Schlaf, als die Szene in einem wirren Traum zu ihm zurückkehrte. Dann dachte er an Fabienne. Er wurde aus ihr nicht schlau. Sie war nett, aber auch irgendwie seltsam. Nicht wegen der Klamotten. Nicht weil sie ohne Probleme zwischen zwei Rollen wechseln konnte, sondern weil sie in einem Moment offen, freundlich und hilfsbereit wirkte, um im nächsten Augenblick beinahe herablassend zu sein. So, als würde sie ihn nicht ernst nehmen. Er wusste nicht mal, wie alt sie eigentlich war. Vielleicht zwei, drei Jahre älter als er. Aber auch damit konnte er falschliegen. Einmal auf der Fahrt, als sie gelächelt hatte, war da auch noch etwas anderes in ihren Augen gewesen. Traurigkeit. Ja, es war Traurigkeit gewesen. Vielleicht hatte sie da schon Ärger mit ihrem Freund gehabt.
Die folgenden Träume waren weniger angenehm. Immer wieder sah er das Gesicht des toten Kaspar Weinfeld vor sich. Das Blut. Ein Richter mit schwarzer Robe und Eulengesicht schrie: »SCHULDIG!«, und er fand sich in einer gigantischen Gefängniszelle wieder. Mit angezogenen Beinen in der hintersten Ecke gegen eine Backsteinmauer gelehnt. Die Mauer explodierte. Er hörte das Gebrüll von Demonstranten und rannte um sein Leben.
Das war der Moment, in dem er aufwachte. Sein Atem ging schnell. Beinahe hätte er geschrien, weil er kurz der Überzeugung war, tatsächlich in einem Gefängnis zu sitzen. Der Trainingsanzug, den er sich für die Nacht ausgesucht hatte, war völlig durchgeschwitzt. Neben der Eingangstür brannte ein rotes Licht, das sich wie ein dünner Schleier über das Bettenlager spannte. Samuel konnte nur die direkte Umgebung ausmachen. Er richtete sich auf und stöhnte vor Schmerz. Sein Kopf tat höllisch weh. Er musste zweimal hinsehen, um zu begreifen, was ihm seine Augen übermittelten. Auf der Pritsche neben ihm schnarchte der alte Mann. Am Fußende lag zusammengerollt Badawi. Der Kater streckte sich, machte einen Buckel und sprang hinüber zu Samuel.
»Was ist denn mit dir los?«, flüsterte Samuel, strich seinem Freund über das Fell, setzte sich auf die Kante des Feldbetts, zog die Schuhe heran und grinste. In einem steckte sein Handy – und es ließ sich wieder anschalten. Zu seiner Verwunderung hatte er hier unten sogar Empfang. Wahrscheinlich gab es irgendwo Signalverstärker. Das Handy vibrierte in einer Tour. Zehn Anrufe in Abwesenheit. Hongkong und London. Emilia, Kata und seine Mutter. Und keiner hatte eine Nachricht hinterlassen. Er versuchte sie nacheinander zu erreichen, aber er kam nicht durch. Als er auf seine Uhr blickte, zuckte er zusammen. War es wirklich schon Nachmittag? Hatte er tatsächlich mehr als zwanzig Stunden geschlafen? Rasch legte er den verschwitzten Trainingsanzug ab, duschte und suchte sich ein paar neue Klamotten raus. Er zog die Schuhe an, setzte Badawi zurück in die Box und ging mit seinem Gepäck nach oben in die Zentrale. Dort stand Fabienne und unterhielt sich mit Kyoti. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen. Vielleicht hatte sie gar nicht geschlafen. Auch jetzt trug sie wieder ihre Verkleidung. Businesslook. Rock und Bluse und eine Brille, die sie ziemlich bieder aussehen ließ. Die Haare hatte sie hinten am Kopf kunstvoll hochgesteckt. Statt Pumps trug sie jedoch Stiefeletten aus Wildleder, die ihre dünnen Beine fast aufzufressen schienen. Kurz darauf verschwand Kyoti mit eiligen Schritten.
»Und,
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