One: Die einzige Chance (German Edition)
genügend Menschen, die in ihrer Freizeit in fremde Rollen schlüpfen wollen, um der Tristesse und der Ungerechtigkeit des Alltags zu entfliehen. Und du glaubst gar nicht, was man auf diese – zugegebenermaßen unwissenschaftliche – Weise alles testen kann. Jeder kann sich in seinem Profil als Unternehmer, Handwerker, Künstler oder weiß der Himmel was sonst noch ausprobieren, um in den einzelnen Leveln aufzusteigen. Alles ist transparent. Sogar was die Bewertung von Leistung und die Bezahlung anbetrifft, haben die Spieler mit den Top-Rankings einen Ansatz gefunden, um das Volk nicht gegen sich aufzuwiegeln. One bekommt eine zweite, moderne Chance. Ist das nicht großartig?«
»Eine zweite Chance? Jetzt übertreib mal nicht. Es erscheint mir doch ziemlich weit hergeholt, dass solche Spielereien die Leute in der Realität zum Umdenken bringen. Selbst den meisten Experten fehlt der Überblick, was läuft. Sie gehorchen der Beraterfirma, die ihnen das angenehmste Szenario verkauft. Das erlebe ich jeden Tag und daran wird ein Computerspiel mit Sicherheit nichts ändern.«
»Wieso wusste ich, dass du das sagen würdest? Dein Verlangen nach Sicherheit und Wohlstand hat dich zu einem angepassten Feigling gemacht.«
Vincent atmete tief durch. Ihm war nicht nach streiten zumute. In Gedanken war er bei Samuel. Er hätte zu seiner Abschlussfeier gehen müssen, auch wenn ihm die aufgeblasenen Leute und das ganze Drumherum auf die Nerven gegangen wären. Doch die Gelegenheit hatte er verpasst.
»So kann nur jemand reden, der die Sache von außen betrachtet«, erwiderte er ruhig. »Weißt du, wie schwierig es ist, Managern Strategien nahezulegen, die länger reichen als bis zum nächsten Quartalsbericht?«
»Was dir immer schon gefehlt hat, war Fantasie und der Mumm, für die eigene Sache einzustehen und sich von dem ganzen Wahnsinn zu lösen. Ich hab ja immer gesagt, dass One nur dann eine Chance hat, wenn es auch von normalen Leuten verstanden wird und nicht nur von Fachidioten.«
»Und deshalb hast du damals auf eigene Faust Flugblätter verteilt und Verschwörungstheorien von geheimen Zirkeln gestreut, oder was? Das war also dein Ansatz, die breite Masse zu erreichen, dass wir beinahe alle von der Uni geflogen wären.«
»Ja, vielleicht war es der falsche Weg. Aber ich fand es nun mal schade, dass du und die anderen … dass ihr so wenig an eine bessere Zukunft für alle geglaubt habt und daran unsere Freundschaft zerbrochen ist.«
»An mir hat es nicht gelegen.«
Es entstand eine Pause. Vincent schenkte sich ein zweites Glas ein. Alkohol und Schlaftabletten sind die optimale Kombination für einen Kater, dachte er und prostete sich selbst zu. Dann zog er die Ausdrucke mit den elektronischen Flugtickets aus dem Ablagefach und horchte nach draußen. Das Knacken war näher gekommen. Er blickte zur Vitrine mit der Schrotflinte. Wenn er mitten in der Nacht herumballerte, würden die Nachbarn den Sicherheitsdienst alarmieren und er müsste sich entschuldigen. Und wo war überhaupt die Munition? Hatte Emilia nicht irgendetwas davon gesagt, dass sie umgeräumt hatte? Sie war ja regelrecht ausgerastet, als er sich die Schrotflinte gekauft hatte. Beinahe hatte sie ihn angeschaut, als wollte er jemanden damit umbringen.
Weinfeld meldete sich mit einem Räuspern zurück. »Auf jeden Fall sieht es so aus, als hätten die Macher des Spiels verschiedene Szenarien durchgeführt, wie man das Wirtschaftschaos neu ordnen könnte. Die Spieler können Waren, Anteile an Unternehmen und Dienstleistungen tauschen. Wer betrügt, wird enteignet und an den Pranger gestellt. Preise für Lebensmittel sind festgesetzt. Die Börse, wie wir sie jetzt mit all den Zockereien kennen, wurde in ein Spielcasino für jedermann ausgelagert. Die Gewinne werden abgeschöpft und demjenigen Staatshaushalt zugeführt, der auf der Kippe steht, oder für kulturelle Projekte eingesetzt. Vielleicht haben sie tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, One zu verwirklichen. Vielleicht wissen sie, wie man unsere Gleichung zu einem Ergebnis bringt, das die Gesellschaft nicht weiter spaltet und für mehr Nachhaltigkeit sorgt. Wäre das nicht großartig?«
»Es funktioniert nicht«, sagte Vincent knapp. »Nicht in einem Spiel und erst recht nicht in der Wirklichkeit.«
»Nicht mit friedlichen Mitteln, willst du sagen.«
»Ja, nicht mit friedlichen Mitteln. Ich weiß, du wolltest dich durchsetzen und unsere Gruppe zu einer kriminellen Vereinigung machen. Wir hatten
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