One: Die einzige Chance (German Edition)
aus den Händen und hielt es über den Kopf. Sie warf den Kopf in einer übertriebenen Geste zurück. »Das hier ist der Schlüssel zur Welt.« Dabei legte sie so viel Pathos in jedes Wort, dass es sich anhörte wie der Auftakt zu einem orientalischen Märchen.
»Ist noch was drin?«, fragte Samuel.
»Noch etwas? Ach herrje. Genügt das dem verwöhnten Söhnchen nicht? Hätte er lieber den Schlüssel zu einem Sportwagen gehabt?«
»Ist ja gut. Komm mal wieder runter.«
Sie ließ die Arme sinken und legte das Buch auf den Tisch. »Hast keinen Sinn für Kunst, was? Schade. Das Spielen, die Kunst – darauf kann man eine gerechte Welt aufbauen. Wenn jeder nach denselben Regeln spielt. Hast wohl schon früh aufgehört, deinen Kopf mit Träumen zu füllen.«
Samuel schob Fabienne von seinem Schoß herunter. Sie war verdammt leicht. Die Wirkung des Joints konnte seine Enttäuschung über das Geschenk nicht verdrängen. Ein Buch. Sein Vater hatte ihm zum Achtzehnten tatsächlich ein Buch geschenkt!
Als er das Geschenkpapier zusammenknüllen wollte, entdeckte er einen Briefumschlag und zog ihn heraus. Der Umschlag war gefüttert und ließ sich ganz geschmeidig öffnen. Noch nie hatte Samuel so dickes Papier in den Händen gehalten. Zwei Blätter. Die Schrift seines Vaters hatte ihn schon immer beeindruckt. Er kannte niemanden, der so gleichmäßig auf unliniertes Papier schreiben konnte wie er.
»Was schreibt er denn?« Fabienne hatte sich auf der Bank ausgestreckt und zog affektiert an dem Joint wie die eleganten Damen in Schwarz-Weiß-Filmen.
»Nichts«, sagte Samuel, wandte sich von ihr ab und begann mit der Stimme seines Vaters im Kopf zu lesen.
Fünf
Berlin | 22 Grad | Nieselregen
Kayan konnte das Bild nicht abschütteln. Der alte Mann, wie er zusammengesunken auf der Treppe vor dem Restaurant saß und sich in die Hosen machte. Noch immer hatte er den Geruch des dickflüssigen Urins in der Nase. Der Makler hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Seine Augen, dieses kühle Grün, hatten sich nicht verändert. Nicht mal das kleinste Zucken der dünnen Haut unter den Augenlidern. Das hatte ihn gerettet. Wahrscheinlich hätte Kayan ihn sonst getötet. Im eigenen Auftrag, der Gerechtigkeit wegen. Betrug war Betrug. Der Riss im Boden, die Erdwärmebohrungen, das hätte er ihm sagen müssen. Das war ein gravierender Mangel. Endgültig abhaken wollte er die Immobilie trotzdem nicht. Sobald er den Auftrag erledigt hatte, würde er einen Fachmann um Rat bitten. Im Golfclub gab es genügend Leute, die etwas von Immobilien verstanden, also kein Grund, das Restaurant jetzt schon abzuschreiben, versuchte er sich zu beruhigen.
Kayan schaltete das Radio ein und suchte nach Musik. Fast alle Frequenzen waren mit Sondersendungen belegt, die aufgeregte Stimmen von Reportern transportierten. Die Krise. Überall war die Rede von der Rückkehr der Krise. Diesem Wort, das die meisten Menschen in Panik versetzte, hatte Kayan Zuwachsraten im zweistelligen Bereich zu verdanken. Je enger es an der Spitze wurde, je kleiner die Eisscholle war, auf der die aufgeblähten Egos der Machtgierigen Platz nehmen mussten, desto größer war die Bereitschaft, Konkurrenten, Mitwisser oder Teilhaber aus dem Weg räumen zu lassen. Einmal hatte ein Kunde sogar darauf bestanden, Kayans Dienste von der Steuer abzusetzen. Dafür musste er eine weitere Treuhandgesellschaft auf Jersey gründen. Einen Trust, der Anteile an einer Firma in Luxemburg hielt, die wiederum ihren Hauptsitz in Singapur hatte. Umständlicher wäre es kaum gegangen.
Kayan wartete auf neue Instruktionen. Er saß im Auto, in Sichtweite seines Hauses, und rief alle paar Sekunden die Mails ab. Wenn es etwas gab, das er an seinem Job hasste, dann das Warten. Er konnte nicht stillsitzen. Dieses widerliche Kribbeln in den Beinen trieb ihn beinahe in den Wahnsinn.
Im ersten Stock gingen die Lichter an. Er stellte sich vor, wie seine Frau die Kleinen ins Bett brachte, ihnen nacheinander eine Geschichte vorlas und ihnen anschließend einen Kuss gab. Dann überquerte sie die Empore, ging vorbei an den gerahmten Familienbildern und trug ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Nach zwanzig Ehejahren betörte ihn ihre Schönheit noch immer wie am ersten Tag. Die Verlockung war groß, sie zu überraschen, doch er wollte das Schicksal nicht herausfordern. Die Nachricht seines Auftraggebers würde bestimmt dann reinkommen, wenn sie sich liebten. Und er rechnete nicht damit, dass die nächsten beiden
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