One: Die einzige Chance (German Edition)
erreichen.«
»Glaub mir, bei dem, was da draußen abgeht, haben die Sender längst andere Prioritäten als den Mord an deinem Onkel. Erst recht, wo sie ihn jetzt als politisch motivierte Tat darstellen. Dadurch können sie mit der Jagd nach uns beginnen und alle Möglichkeiten ausschöpfen, die ihnen die Verfassung gibt.« Ihre Hand schloss sich um seinen Arm. Samuel setzte die Transportbox ab.
»Was macht dein Vater eigentlich beruflich?«, wollte Fabienne wissen.
»Er ist Mathematiker und berät Firmen. Aber er hat nie groß über seine Arbeit gesprochen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er sich fast dafür schämte. Meine Mutter sagte immer, dass er das nicht dürfe.«
»Mathematiker«, wiederholte Fabienne nachdenklich. »Leute wie Pablo, Kyoti und dein Vater können diese Welt in Zahlen packen. Sie sind wichtiger denn je. Hat er auch Regierungen beraten oder nur Unternehmen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Worüber habt ihr denn geredet, wenn ihr zu Hause wart, über das Essen?« Es blitzte spöttisch in ihren Augen auf.
»Nein«, sagte Samuel. »Darüber bestimmt nicht.«
»Und wer war der Mann, bei dem du in Frankfurt unterkommen solltest? Der andere Tote?«
»Weinfeld? Keine Ahnung. Seinen Namen hab ich vorher noch nie gehört.«
Samuel dachte daran, was in dem Brief gestanden hatte. Sein Vater wollte ihm irgendetwas über die Vergangenheit mitteilen. Etwas, das vielleicht mit seinem Studium zusammenhing oder dem Job, den er damals hatte, als sie noch in Zürich lebten.
»Hat das Schließfach etwas damit zu tun?«, fragte Fabienne, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
»Kann schon sein. Mein Vater will mir irgendwas über seine Vergangenheit erklären. Das stand jedenfalls in dem Brief.«
»Über seine Vergangenheit?« Fabienne zog die Augenbrauen hoch.
Samuel nickte.
»Ich weiß, dass du Angst hast«, sagte sie. »Aber jetzt davonzulaufen, bringt nichts. Ich werde mit Kyoti reden, dass er deinen Eltern irgendwie eine Nachricht zukommen lässt. Das wird bestimmt ein, zwei Tage dauern, weil in der nächsten Phase auch die Transponder der Mobilfunknetze lahmgelegt werden. Aber in Zürich findest du vielleicht Antworten auf deine Fragen.«
Sieben
Hessen | 29 Grad | Sonnenschein
Samuel tat der Hintern weh. Seit zwei Stunden saß er nun auf dem Motorrad und klammerte sich an Fabienne fest. Es war ein komisches Gefühl, sie zu berühren, aber ihm blieb keine andere Wahl. Badawi hatten sie auf dem Gepäckträger festgeschnallt und der Kater ließ hin und wieder ein klägliches Wimmern hören.
Immer wieder tauchte in Samuels Kopf die Frage auf, ob es nicht besser gewesen wäre, zur nächsten Polizeistation zu gehen, um das Missverständnis aufzuklären, als in die Schweiz abzuhauen, um einen Blick in ein Schließfach zu werfen. Er sah ja auch gar nicht aus wie ein zweifacher Mörder. Auf jeden Fall nicht wie die Mörder, die sonst so in den Nachrichten gezeigt wurden. Der Techniker! Natürlich! Der konnte sogar bezeugen, dass er ihm die Tür zu Weinfelds Wohnung geöffnet hatte und seine Fingerabdrücke nur deshalb dort gefunden wurden, weil er versucht hatte, den Mann zu retten. Aber die Visitenkarte hatte er in die Tasche gesteckt und irgendwo verloren. Hätte er doch bloß auf den Mann gehört und seinen Namen hinterlassen. An seinen Händen spürte er wieder die lauwarme Flüssigkeit, das blutgetränkte Hemd und hörte das Röcheln und Gurgeln, begleitet von den Worten des Technikers, die er sagte, als sie vor der Wohnung standen. Es hatte sich wie ein Zitat aus Grey’s Anatomy angehört: »Es gibt Dinge, die einfach passieren, ohne dass wir sie erklären können. Die unseren Weg von heute auf morgen über den Haufen schmeißen.« Vielleicht hatte er das nicht wörtlich gesagt, aber es war etwas in der Art gewesen. Etwas, das Samuel deshalb aufhorchen ließ, weil er es nicht aus dem Mund dieses kleinen dicklichen Mannes erwartet hätte. So gesehen war es vielleicht doch das Beste, abzuhauen, bis sich die Lage wieder entspannt hatte. Auch wenn er nicht wie ein Mörder aussah, hatte die Polizei im Moment wichtigere Dinge zu tun, als seine Aussage zu überprüfen. Die Vorstellung, eingesperrt zu werden, machte Samuel Angst.
Fabienne bog von der Landstraße ab in einen Waldweg. Die Schranke war geöffnet. Laubbäume wölbten sich über den Schotterweg wie ein Tunnel. Kiefern und Fichten standen in zweiter Reihe. Das Summen des Elektromotors wurde von dem Geräusch auseinanderspritzender
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