One: Die einzige Chance (German Edition)
Ausgeben der neuen Runde ließ Samuel die Fotos in seine Hand gleiten und legte den Umschlag auf die Ablage. Fabienne schenkte ihm keine Beachtung. Sie stierte auf eine mathematische Formel mit einer Vielzahl von Variablen, deren Bedeutung in einer angefügten Liste erklärt wurde. Bruttosozialprodukt. Wachstum. Beschäftigung. Binnennachfrage. Exportquote. Fabienne sah aus, als würde sie tatsächlich verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Ihre Stirn lag in Falten. Sie blätterte weiter. Samuel betrachtete die Fotos. Auf den ersten beiden Bildern war eine Gruppe von jungen Leuten abgebildet, die vor einem alten Kamin standen und sichtlich gezwungen in die Kamera lächelten. Anscheinend hatte der Fotograf sie dazu genötigt. Vincent hatte sich kaum verändert. Er trug schon damals dieselbe Frisur wie heute, einen grünen Rollkragenpulli und ein Cordsakko, das an den Armen zu kurz war. Sein Blick ging direkt zum Fotografen. Daneben stand eine rundliche Frau mit langen dunklen Haaren und einer Brille, die ihr halbes Gesicht verdeckte.
»Kennst du Leute, die drauf sind?«, fragte Fabienne und schielte zu ihm hinüber.
Samuel zögerte. Die Frau hatte er noch nie gesehen. Der dunkelhaarige Mann dagegen kam ihm bekannt vor. Wenn man sich die Haare wegdachte und dreißig Jahre in die Zukunft schaute, konnte es Kaspar Weinfeld sein. Der Ausdruck auf dem Gesicht, das fassungslose Entsetzen … Nie würde er das vergessen. Er deutete mit dem Finger auf den Mann. »Ich … ich glaub, das ist Weinfeld. Das ist der Mann, der vor meinen Augen gestorben ist. Der erste Tote. Der, der nicht in den Nachrichten kam.«
»Sicher?«
»Ziemlich.«
»Und die anderen?«
»Das hier ist mein Vater, daneben mein Patenonkel. Die Frau kenne ich nicht.«
Fabienne zögerte. »Aber ich.«
»Du?«
Sie nickte. »Das ist Marietta von Dahlem. Sie … ich hab sie mal kennengelernt. Sie ist sehr nett … gewesen.«
»Und woher kennst du sie?«
Statt einer Antwort legte Fabienne die Papiere zurück in die Kassette und tippte mit dem Finger darauf. »Das hier ist die Basis von One und von dem, was wir damit vorhaben.«
»Was erzählst du da?«
Fabienne schwieg kurz und wich seinem Blick aus. Dann holte sie tief Luft. »Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
»Dass ich dich belogen habe. Du hattest recht, wir haben uns nicht zufällig getroffen. Das war unser Plan. Ich bin Nina. Ich bin das Mädchen, mit dem du gechattet hast. Ich wusste, dass du der Sohn von Vincent Pinaz bist und wollte dich an der S-Bahn-Station treffen, aber dann hat sich der Zeitplan für die Demos geändert und das Chaos war größer als gedacht.«
Samuel fühlte sich, als hätte sie ihm gerade den Boden unter den Füßen weggezogen. »Und der kaputte VW-Bus?«
»Wir haben dich von Anfang an überwacht, schon seit deiner Ankunft am Flughafen. Pablo hat dir ja gezeigt, wie einfach das mit den Kameras funktioniert. Die Mutter von dem Taxifahrer gehört zu uns. Und Kyoti kennt sich auch mit Autos aus. Er hat das eingefädelt, damit ich dir einen kleinen Peilsender anheften kann.«
»Einen Peilsender? Wie im Agentenfilm? Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?« Samuel wusste nicht, wie er reagieren sollte. Eigentlich hätte er ausrasten müssen, aber das Geständnis klang im ersten Moment so absurd, dass es nur zu einem ungläubigen Kopfschütteln reichte.
Fabienne bückte sich, öffnete die Transportbox von Badawi, fasste hinein und hielt ein kleines silbernes Kästchen in der Hand, das kaum größer als ein Fingernagel war.
»Aber wozu? Was hab ich mit eurer Sache zu tun? Was wollt ihr von mir?«
»Dein Vater ist ein Genie. In den Achtzigerjahren war er der Kopf einer Studentengruppe, die nach einer neuen, fairen Wirtschaftsordnung gesucht hat. Viele seiner Ideen und die der Gruppe bilden die Grundlage von One .«
»Du kennst die Diplomarbeit?«
»Nur in Teilen. Kyoti ist auf Auszüge davon im Internet gestoßen.«
»Und wie sind die da hingekommen?«
»Das wissen wir bis heute nicht. Wir haben angenommen, dein Vater hat sie dort hinterlegt, um sie als Gedankenspiel für andere freizugeben. Das ist nichts Ungewöhnliches. So arbeiten mittlerweile viele Wissenschaftler. Wir haben nicht von Anfang an gewusst, dass die Aufzeichnungen von deinem Vater stammen. Sie waren anonymisiert. Erst durch längere Recherche ist Kyoti darauf gestoßen. Und dann hat er One als Spiel entdeckt und gedacht, dass auch dahinter dein Vater oder die Gruppe steckt. Hätte ja sein
Weitere Kostenlose Bücher