One: Die einzige Chance (German Edition)
nach hinten und lächelte. Hatte die letzte Nacht wirklich keine Bedeutung für sie? War es in ihren Augen nur Sex gewesen, nichts weiter? In Hongkong kannte er kaum Mädchen, die so dachten. Viele von ihnen wollten sich sogar ihre Jungfräulichkeit für die Ehe aufsparen. Sie gingen zwar auf Partys, betranken sich und knutschten rum, aber mehr war nicht drin. Auch nicht mit Kata. Vielleicht war es gut, dass sie nie miteinander geschlafen hatten. Vielleicht waren sie sowieso nicht füreinander bestimmt, wie sie sich eingeredet hatten. Seltsamerweise hatte er jetzt auch kein schlechtes Gewissen, als er Katas Gesicht vor sich aufblitzen sah.
Aber war Fabienne tatsächlich so abgebrüht? Er würde es wohl nie erfahren, ohne sich lächerlich zu machen. Sie war drei Jahre älter als er und schon an der Uni gewesen. Mädchen im Allgemeinen und solche wie Fabienne im Speziellen interessierten sich nicht für Jüngere. Er war also nur Zeitvertreib gewesen. Ein Zwischenspiel vor der Revolution.
Der Regen ging in ein Nieseln über. Sie fuhr weiter, bis zu einem alten knorrigen Baum, um den sich eine Holzbank schlang. Daneben, unter einem moosbewachsenen Schieferdach, hing ein abgemagerter Jesus an einem Kreuz. Fabienne hielt an und zog den Helm ab. »Könntest du eventuell loslassen?«, bat sie lächelnd. »Es besteht keine Gefahr mehr, runterzufallen.«
»Ähm, sorry. Klar.« Samuel nahm seine Hände von ihren Hüften. Sie stiegen ab. Fabienne blickte auf ihr Handy. »Liegen gut in der Zeit. Nach einer kleinen Pause können wir die letzte Etappe in Angriff nehmen.«
»Und Kyoti hat nichts dagegen, dass du mich begleitest?«
»Es geht ihn nichts an. Ich werde als Runner und Vermittler arbeiten, sobald die Ruhephase vorbei ist. Nach der letzten Phase werde ich das Drehbuch von One mit der Wirklichkeit abgleichen und schauen, welches Szenario passen könnte und welches die Entscheidungsebene vorsieht.«
»Es gibt verschiedene Szenarien?«
»Wir sind schließlich keine Hellseher. Mit Sicherheit wird es zu Problemen und Unstimmigkeiten kommen. Haben die beiden Deppen gestern Abend ja eindrucksvoll demonstriert. Sind eben alles nur Menschen. Wir können nicht erwarten, dass alles nach Plan läuft. Wahrscheinlich werden sie einige von uns festnehmen. Andere werden aussteigen oder sich Splittergruppen anschließen, sollte es tatsächlich so weit kommen.« Sie deutete zur Transportbox. »Willst du deinen Freund nicht kurz rauslassen? Vielleicht muss er mal.«
»Natürlich.« Samuel holte Badawi aus der Transportbox und hielt ihm abermals die getrockneten Garnelen hin. Der Kater hatte immer noch keinen Hunger.
»Versteht ihr euch gut, du und dein Vater?«, fragte Fabienne. Sie hatte eine Plastiktüte aufgerissen und auf die Holzbank gelegt. Jeder von ihnen trug ein blaues Regencape, das kaum dicker war als ein Müllsack und die Wärme nur schlecht am Körper hielt. Die durchnässten Klamotten klebten auf der Haut.
»Wir haben nie viel miteinander geredet. Manchmal hab ich mich gefragt, wieso er überhaupt eine Familie hatte, wenn er sowieso die ganze Zeit unterwegs war. Wahrscheinlich war es ihm zu langweilig, als Vater zu Hause zu hocken. Wie sind deine Eltern?«
»Nett. Meine Mutter tut alles für andere und verlangt nichts dafür. In gewisser Weise ist sie mein Vorbild.«
»Und dein Vater? Was ist mit ihm?«
»Hat sich wie ein Blöder in seinen Job als Tierarzt reingehängt und zur Belohnung einen Schlaganfall bekommen.«
»Bist du deshalb so … verbittert? Wegen ihm?«
»Ich bin nicht verbittert. Ihm … meinen Eltern geht es ja trotzdem wieder gut. Ich will nur nicht, dass die Menschen das Menschsein verlernen. Liebe, Vernunft, Vertrauen, Mitgefühl … Alles, was wir als Kind mitbekommen, geht verloren, wenn wir uns darauf einlassen, im Strom mitzuschwimmen. Warum müssen Erwachsene aufhören zu spielen? Warum müssen sie ihre Kreativität der Jagd nach größeren Gewinnen opfern? Wieso zwängen sich Millionen Menschen jeden Tag in ein Korsett und lassen sich einreden, dass ihr Wert davon abhängt, was jeden Monat auf ihrem Konto landet? Das verstehe ich nicht.« Sie erwartete eine Antwort von Samuel. Der zuckte vorsichtig mit den Schultern. Was sollte er dazu sagen?
Fabienne verzog angeekelt das Gesicht.
»Ist was?«
»Könntest du eventuell damit aufhören, den lockeren Zahn vor- und zurückzuschieben? Das sieht echt widerlich aus.«
»Sorry. Hab ich nicht gemerkt.« Samuel betastete seinen Mund. »Der Zahn
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