Oneiros: Tödlicher Fluch
»Ich … habe Probleme«, gestand sie und stützte den Kopf in die Hände.
»Wer?« Die Kamera fing ein Stück seines breiten Oberkörpers ein. Er trug einen Smoking mit schwarzer Fliege und weißem Hemd.
»Der MI 6 .«
Anatols Mund wurde sichtbar. Die kleine Narbe an der rechten Seite war dunkelrot, die Erinnerung an einen Messerschnitt. Derjenige, der ihm die Verletzung zugefügt hatte, war in kleinen Stückchen an die Hunde verfüttert worden. Kristin hatte die Dobermänner nie gemocht. Dass sie Menschenfleisch fraßen, verstärkte ihre Abneigung. Aber Eugen liebte sie, und die Hunde gehorchten seinen Anweisungen aufs Wort. »Namen?«
»Timothy Chester Darling, MI 6 -Commander«, flüsterte sie und schloss ihr Smartphone an den Computer an, lud ein Bild hoch, das sie von Darling geschossen hatte, und sandte es ihrem Ex-Mann. »Er weiß viel über das Institut, über meine Wissenschaftler. Er kann meine Forschungen gefährden, Anatol, und damit die Gesundheit unseres Sohns!«
Seine kräftige Hand tauchte auf, rückte die Fliege gerade, ein goldener Siegelring sowie ein Ring, der vor der Umarbeitung ein Tapferkeitsorden gewesen war, blitzten auf. Es war nur eine von vielen militärischen Auszeichnungen, die er sich in seiner ersten Laufbahn erkämpft hatte. Im wahrsten Sinne. »Ich kümmere mich darum. Noch etwas?« Er sprach sanft und abweisend, ungeduldig und verächtlich.
»Ich brauche mehr Geld, Anatol. Für meine Forschungen. Ich muss das Institut verlegen lassen, auch wenn du dich um Darling kümmerst.«
»Hast du einen Ausweichort?«
»Ich dachte an Orscha.«
Die Kamera zeigte sein rechtes Auge, die hellblaue Iris strahlte wie ein Edelstein. Der energische Blick daraus zielte genau in die Linse. »Denkst du nicht, es wäre besser, du lässt es ganz bleiben?«
Kristin fühlte einen glühenden Stich in die Leibesmitte. »Es lassen?«, stieß sie lauter als gewollt hervor. »Du redest vom Leben unseres Kindes! Wenn ich keinen Erfolge habe, dann bekommt er diese Insomnie und … Schlimmeres. Das weißt du doch!«
»Ja, ich weiß es, Sophia. Aber es muss ein Ende haben«, entgegnete er. »Du gefährdest nicht nur dich damit.«
»Ich kann nicht damit aufhören! Es geht um Eugen«, flüsterte sie atemlos. »Er muss eine Chance bekommen! Eine Chance, die ich nicht habe. Ich tue nichts Verwerfliches. Im Gegenteil, ich habe schon viele Unschuldige vor einem jähen Tod bewahrt. Sieh dir die Opfer im Stadion an. Hätte ich Arctander geschnappt, wären achtzigtausend Männer, Frauen und Kinder noch am Leben. Ich jage und töte Killer.« Kristin bebte vor Aufregung. Ihr Ex-Mann war im Begriff, Verrat an seinem eigenen Fleisch und Blut zu üben. »Ich kann nicht aufhören, Anatol. Es muss sein.«
»Du redest dir deine Taten schön.« Er drehte den Kopf zur Seite, das Auge verschwand in der Schwärze, sein brünettes, kurzes Haar erschien stattdessen. »Du und deine Ärzte seid nicht besser als KZ -Ärzte.«
»Du bist kaum in der Position, mir moralische Vorhaltungen zu machen! Dein Geld verdienst du nicht mit dem Verkauf von Babynahrung«, gab sie ätzend zurück. Die eisige Hand in ihr quetschte ihr Herz weiter. »Bitte, Anatol! Hilf mir!«
Ihr Ex-Mann schwieg. Das Gläserklirren im Zimmer hinter ihm wiederholte sich, sein Name wurde laut von einer Frau gerufen.
Kristin kannte diese Veranstaltungen, die mehrmals im Jahr in einem seiner Häuser stattfanden. Es waren Oligarchen mit am Tisch, internationale Millionäre, diskrete Vertreter von politischen Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern. Sie saßen da, in Smokings und in Cocktailkleidern, im Dresscode, der dem Empfang bei einem Präsidenten alle Ehre machte.
Sie redeten unverfänglich und nutzten dabei Codes, um Geschäfte zu machen, aßen Delikatessen und beschlossen den Tod von Nebenbuhlern, hörten einem klassischen Streichquartett zu und tippten Anweisungen in ihre Smartphones, um Exekutionskommandos loszuschicken oder Bomben zu zünden.
Anatol konnte sich ihr gegenüber nicht als besserer Mensch aufspielen. Sie waren beide Verbrecher, nur ihre Motivation unterschied sich. Sie fühlte sich ihm sogar überlegen, denn die gewonnenen Erkenntnisse würden der ganzen Menschheit nutzen. Ihre Methoden mochten fragwürdig oder moralisch verwerflich sein, das räumte sie ein. Doch es kamen dabei neuartige Erkenntnisse für die Medizin heraus, und diese wiederum retteten eines Tages viele Leben.
Anatols legal-illegale Machenschaften dagegen
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