Oneiros: Tödlicher Fluch
kommen.
Eugen war erst acht. Auch wenn Kristin bald in den Cryotank stieg, um sich ihren Verstand zu bewahren, bis die Zukunft ein Mittel gegen Insomnie parat hielt, würden den Ärzten noch Jahre bleiben, um ihrem Sohn ein einmaliges Leben zu ermöglichen. Ein Leben, das alles schlug und das Dekaden um Dekaden anhalten konnte.
Sie nahm sogar an, dass die Wissenschaft in hundert Jahren weitere Fortschritte machte. In ihrer besten Vorstellung lebte Eugen einfach ewig, verpflanzte sein Hirn von Körper zu Körper. Sie hatte ihm dazu den Weg bereitet. Ihr Vermächtnis an ihn. Mutter und Vorreiterin für eine neue, revolutionäre Art des Lebens.
Endlich näherte sich ein Scheinwerferpaar und wurde langsamer.
Der Wagen erschien aus der Dunkelheit, ein Seat Leon, schwarz und gebraucht, vermutlich gestohlen. Miller saß hinter dem Steuer und hielt neben Kristin an.
Sie stieg im Fond ein. »Ich habe sie verloren. Korff hat Strong und Johnny erledigt.«
»Scheiße.« Es klang nicht unbedingt teilnahmsvoll. Miller fuhr los, nutzte Nebenstraßen, um nicht in eine Polizeikontrolle zu geraten, und verließ die Altstadt. Sie stellte den Wagen schließlich am Straßenrand in einer Parkbucht ab.
Das Warten auf Darlings Anruf begann.
Kristin entdeckte nicht weit weg die Leuchtreklame eines Internet-Cafés.
Perfekt! Eine Möglichkeit, mit meinem Sohn zu sprechen!
»B-b-bin gleich wieder da«, sagte sie und stieg aus. »Wenn was ist, einfach a-a-anrufen.«
Sie überquerte die Straße, ging durch eine Gasse und schlug einen Bogen, um sich dem Internet-Café von hinten zu nähern. Miller musste nicht sehen, was sie tat.
Der Seiteneingang des Ladens war unverschlossen, und Kristin trat aus dem Durchgang zu den Toiletten in den Hauptraum. »Hallo«, grüßte sie den überraschten Angestellten auf Englisch. »Ich brauche einen PC mit Webcam. Am besten irgendwo, wo ich ungestört bin. Geht d-d-das?« Sie legte ihm einen Fünfziger auf den Tresen und zeigte wortlos auf eine der Wodkaflaschen, die in einer Vitrine hinter ihm standen.
»Sicher.« Er schaute an ihr vorbei in den Gang zur Seitentür und klopfte sich auf die Beintasche, wie um sicherzustellen, dass er den Schlüssel bei sich trug. »Platz vierzehn.« Er stand auf, reichte ihr eine Flasche und begab sich nach hinten, um abzuschließen.
Kristin nahm den Wodka und setzte sich in die ruhige Ecke, abseits von zwei zockenden Teenagern, einem downloadenden Mitvierziger und einem palavernden Inder, der laut mit seiner Familie in seiner Muttersprache konferierte. Es würde ihre eigene Unterhaltung nach außen übertönen.
Sie öffnete den Verschluss, trank in zwei langen Zügen Wodka gegen ihr Stottern und ging ins Netz, aktivierte die Internetkamera, das Sprech- sowie das Chatprogramm, dann suchte sie nach Eugen.
Seine Statusmeldung verkündete, dass er beschäftigt war, aber hinter dem Pseudonym ihres Ex-Mannes leuchtete das grüne Online-Symbol.
Ein Klick darauf, und sie schrieb ihm, dass sie mit ihm reden müsse.
Noch mehr Wodka.
Auf dem Bildschirm blendete sich sein Gesicht ein. Er hatte eine Lampe so eingestellt, dass sie die Kamera blendete und er kaum zu erkennen war. Gelegentlich tauchte ein Teil seines Gesichts, ein Auge, die Mundpartie, das Kinn aus der Dunkelheit auf, wie in der genialen Einstellung im Film
Apocalypse Now
mit General Kurtz, der aus der Finsternis spricht. Bei seinem Anblick pochte ihr Herz sofort schneller. Die Gefühle für ihn waren unvermindert stark, die Liebe zu ihm nicht erloschen. Leider beruhte das Empfinden nicht auf Gegenseitigkeit. Nicht mehr. Nicht, seit die Wahrheit ans Licht gekommen war – oder das, was er für die Wahrheit über sie hielt.
»Anatol«, flüsterte sie gebannt auf Russisch. Wieder trank sie von dem Wodka, dann schob sie die halbleere Flasche zur Seite.
»Ich höre dich, Sophia«, sprach er leise und abweisend. Es fiel ihm schwer, sich mit ihr zu unterhalten, doch zum Wohl ihres gemeinsamen Kindes tat er es. Im Hintergrund erklangen leise Männerstimmen, begleitet von Gläserklirren. »Wo steckst du? Eugen wartet auf dich.«
»Ich … bin in Spanien. Geschäftlich«, würgte sie flüsternd hervor.
Sophia.
So nannte nur er sie, von Beginn an. Eine eiskalte Hand wühlte in ihren Gedärmen, packte ihr Herz und hielt es umklammert. Vor ihren Augen sah sie ihren Sohn mit Sehnsucht in den Augen am Fenster stehen und nach ihr Ausschau halten. Und sie wollte ihn nicht weniger dringend in die Arme schließen.
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