Oneiros: Tödlicher Fluch
groß.
»Also, leg los. Die ganze Geschichte.« Kristin vollführte eine Geste, die Langeweile auszudrücken schien. »Ich habe dich zum Einschlafen gebracht, um dich zu testen. Aber es ist nichts geschehen. Was ist los mit dir? Wie hast du es im Airbus angestellt?«
»Wovon redest du?« Er verstand gar nichts.
Mit einem Sprung landete sie neben ihm im Bett. Im Flug zog sie die Haarnadel aus ihren Haaren und rammte sie ihm in den Oberschenkel; seinen Schrei erstickte sie mit einem harten Schlag ins Gesicht. Als er sich zur Seite wälzen wollte, weg von ihr, bekam er einen zweiten Schlag, der ihn rückwärts vom Bett warf. Rumpelnd fiel er zu Boden.
Sofort saß Kristin auf seiner Brust und hielt ihm die blutige Nadel vor das linke Auge. »Damit komme ich bis auf die andere Seite deines Gehirns, Tommaso. Einmal quer durch den Schädel. Rede endlich, wie du es angestellt hast!«
Der Schmerz in seinem Oberschenkel brachte ihn zum Aufstöhnen. Millionen Gedanken schossen durch seinen Kopf. Er versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was diese Irre von ihm wollte. Hielt sie ihn für den Schuldigen des Attentats? War sie eine Angehörige?
Ein roter Tropfen löste sich von der Spitze der Nadeln und klatschte ihm ins Auge, ließ ihn krampfhaft blinzeln.
Am besten, er redete mit der Verrückten und hoffte, dass die Polizei bald ihre Leute vermisste. Hatte er den Zettel mit der Zimmernummer an der Bar gelassen? Dann würden sie ihn …
Die Nadel stach zu und bohrte sich durch seine linke Wange, verletzte die Zunge. Kristin schlug ihre Nägel in seinen Hals und würgte seinen Aufschrei regelrecht ab.
»Ich war kacken«, presste er keuchend heraus. »Ich weiß nicht, was passiert ist.«
Sie sah ihn durchdringend an. »Beschreib, was du getan hast und was passiert ist, als die Menschen gestorben sind.«
Tommaso wiederholte stammelnd, was er Radont und Darling berichtet hatte, in allen Einzelheiten, während Kristin auf ihm saß und ihn betrachtete, als sei er nichts weiter als ein Insekt. Kein Mensch, sondern ein Käfer, den sie einfach auslöschen konnte. Mit einem Zucken ihrer Hand.
Schließlich hatte er seine Erzählung beendet und wagte nicht, sie anzuschauen. Er fürchtete sich davor, sie herauszufordern. Es war zu gefährlich, sich zu wehren, solange die Nadelspitze weniger als zwei Millimeter vor seinem Auge schwebte.
»Bleib liegen und rühr dich nicht«, befahl sie ihm nach längerem Schweigen. Kristin beugte sich nach vorne und nahm die Nadel zur Seite, um ihre Stirn an seine zu legen.
Tommaso fühlte die Spitze jetzt in seinem Ohr. Es war fast absurd, dass eine verführerische Frau beinahe nackt auf ihm lag und ihn töten wollte. In einem Film wäre das vielleicht spannend, aber für ihn hatte die Szene nicht einmal einen Hauch von Erotik. Er wollte nur lebend aus dem Zimmer entkommen.
Kristin schloss die Augen – und plötzlich begann es, auf der Höhe seiner Nasenwurzel zu kribbeln! Das Gefühl breitete sich aus, als würde die Haut von diesem Punkt aus einschlafen.
Dann richtete sich die brünette Frau auf und blickte ihn enttäuscht an. Die Nadel verharrte an seinem Ohr. »Du warst es nicht«, befand sie abfällig.
»Nein«, sagte er erleichtert. »Ich habe damit nichts zu tun.« Er schluckte und hoffte, jetzt von ihr in Ruhe gelassen zu werden, was auch immer sie eben getan hatte.
Sie tätschelte seine durchlöcherte Wange. »Tut mir leid. Ich hatte es angenommen, weil du der einzige Überlebende warst.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern, ihre kleinen Brüste bewegten sich sachte. »Jetzt weiß ich, dass es noch eine Person geben muss, die den Unfall des A 380 überstanden hat. Vermutlich ist dieser Mensch schon über alle Berge. Oder die Behörden verstecken ihn wie dich. Aber das werde ich herausfinden.«
Tommaso blieb ruhig liegen, spannte jedoch die Muskeln allmählich an. Der Moment schien gekommen, die Irre abgelenkt genug zu sein, dass er einen Fluchtversuch wagen konnte. Wenn sie die Spitze noch ein paar Millimeter wegzog, würde er es riskieren, bevor …
Die Haarnadel stieß mit viel Kraft durch das Trommelfell bis ins Gehirn des Italieners. Der Raum war unvermittelt in grelles Licht getaucht, es roch nach Schokolade und Ginster; irgendwo brandete ein Meer gegen Klippen, die Luft schmeckte nach Salz. Wie in Tommasos Kindheit, als er Wochen bei seinen Großeltern an der Küste verbracht hatte.
Dann erschienen die ersten Gesichter der Toten aus dem Airbus vor ihm.
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