Oneiros: Tödlicher Fluch
Sein Herz schlug schneller, die schönen Erinnerungen wurden von der aufsteigenden Panik verjagt. Im Sterben blickte er zu Kristin.
Sie sah auf ihn herab. »Oh, entschuldige. Ich muss gehen.« Kristin schwang sich von ihm herab. »Wie die Medien berichtet haben: Es gibt
einen
Überlebenden. Nicht zwei.«
Paris, Frankreich
Für Konstantin war Lilou de Girardin nichts weiter als eine Tote, die er einbalsamierte, auch wenn es diesmal ungleich schwieriger war, ein perfektes Ergebnis zu erzielen, als bei einem normalen Fall.
Gelegentlich wurden im
Ars Moriendi
Verstorbene angeliefert, die zuvor durch die Hände der Rechtsmedizin gegangen waren, da der Arzt »ungeklärte Todesursache« oder »nicht natürlicher Tod« auf dem Totenschein angekreuzt hatte. Um die Möglichkeit eines Verbrechens auszuschließen, obduzierte man solche Menschen.
Dieses Schicksal hatte auch Lilou getroffen, die er aus dem Plastiksack geschält und auf den Edelstahltisch gelegt hatte: Y-Schnitt über Brust und Bauch, Einstiche in der Haut, vernähte Stellen, wo die Pathologen recht rücksichtslos Proben aus dem Körper entnommen hatten, um dem Tod auf die Spur zu kommen. Glücklicherweise hatten sie darauf verzichtet, den Schädel zu öffnen. Vermutlich verhinderte ihre prominente Herkunft diese sonst übliche Vorgehensweise. Dennoch machte das zerstörte Gefäßsystem die Einbalsamierung extrem kompliziert. Zudem hatte man ihr die Halsorgane entnommen, aber zumindest der Hals selbst wies keine Schnitte auf.
Jetzt weiß ich, warum sie mich holten.
Konstantin begutachtete die Prellungen im Gesicht, die Brüche, die er remodellieren musste.
Er trennte die provisorischen Nähte auf und warf einen kurzen Blick in die Bauchhöhle der Leiche.
Sie war ausgeräumt und die Organe nach der Untersuchung in eine Tüte hineingegeben worden. Das machte es für ihn wiederum einfacher, das Entlüften und Absaugen konnte er sich sparen. Konstantin entnahm den Beutel. Er würde den Inhalt komplett so belassen und eine unverdünnte Formaldehydlösung hinzugeben. Mit der Zeit diffundierte die Lösung in die Zellen, eine gesonderte Behandlung war nicht notwendig.
Konstantin legte los. Waschen, desinfizierende Reinigungsflüssigkeit, Lösen der Totenstarre durch Massage und Bewegen der Gliedmaßen, damit die Leiche geschmeidig wurde und sich die letzten wenigen Blutreste lösten.
Behutsam schob Konstantin Injektionsnadeln in den noch intakten Teil des Gefäßsystems der Leiche und verband sie mit den Schläuchen der Einbalsamierungspumpe. Über die Beinschlagader leitete er die Einbalsamierungsflüssigkeit ein. Er rechnete nicht damit, dass noch größere Mengen Restblut austraten, da es normalerweise über die Jugularvene abgeleitet wurde. Lilous Lebenssaft war in der Gerichtsmedizin verblieben.
Klack, klack, klack, die mechanische Pumpe hielt ihren Takt, während Konstantin den Körper der Toten knetete und massierte, damit die konservierende Flüssigkeit selbst in die kleinsten, schlecht durchbluteten Stellen gelangte.
Immer wieder kontrollierte er, wie sich die Mischung aus Formaldehyd und weiteren Substanzen verteilte, ob es zu ungewollten Ansammlungen kam. Mehrmals musste er die Nadeln im Körper umstecken, da die Venen und Arterien durch die pathologische Behandlung gekappt waren. Eine aufwendige Prozedur, die höchste Sorgfalt verlangte.
Die Totenflecken verschwanden schließlich durch seine Bemühungen, die Blutergüsse wichen der normalen Gesichtsfärbung. Dennoch verbrauchte der Vorgang mehr Fluid als sonst.
Als er sicher war, dass die Konservierung weitestgehend gelungen war, trocknete er Lilou ab und bettete sie auf einen zweiten Tisch, den er mit Küchenrollenpapier ausgelegt hatte.
Konstantin wurde langsam müde, sein Zuckerspiegel senkte sich. Konzentration war aber wichtig.
Pause.
Es war kurz nach sieben Uhr abends, wie ihm seine Uhr verriet, und er hatte Hunger.
Er zog Atemschutz, Handschuhe, Schürze und Schuhüberzieher aus, desinfizierte die Hände und verließ den Raum, stiefelte die Kellertreppen hinauf, an deren Ende ihn einer der gestählten Aufpasser mit einem Nicken begrüßte und auf eine angelehnte Tür zeigte. Es war weniger ein Hinweis, wo er etwas zu essen fand, als vielmehr die Anweisung, nicht ins Freie zu gehen.
Konstantin trat durch die Tür in einen Raum, wo Caràra auf einem Stuhl saß und in einem Buch mit einem spanischen Titel las.
Es roch nach Kaffee, nach Wurst und Brötchen. Auf einem blitzsauberen Tisch
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