Oneiros: Tödlicher Fluch
und Caràra im Wagen, ins Gespräch vertieft, dann ein paar verwackelte, unscharfe Aufnahmen von ihm in der Lobby. Und dafür hatte der Fotograf sein Objektiv geschrottet und vermutlich auch den Korpus der Kamera verloren.
Für Konstantin war es jedoch wichtig, dass sein Gesicht nicht zu sehr in die Öffentlichkeit geriet. Daher hatte er den Chip mit der Schere zerschnitten und die Einzelteile durchs Klo gespült.
Berufsrisiko der Paparazzi.
Dem Café gegenüber, auf der anderen Seite des Roten Platzes, lag das Haus seines Kunden, von dem er eben kam.
»Haus« war nicht unbedingt der korrekte Ausdruck bei der Größe des Bauwerks. Heimlich war er durch den Seiteneingang gelotst worden, tief in das würfelförmige Gebäude aus schwarzem Labradorstein und rotem Granit. Konstantin hatte die Stufen nach unten gezählt und war auf dreißig gekommen, dann hatte er zusammen mit seinen drei Begleitern vor dem Kristallsarg gestanden.
Der Auftrag war erledigt, und zwar wesentlich schneller als bei Demoiselle Lilou. Eigentlich plädierte die Mehrheit der Russen seit Jahren für eine Beerdigung der prominenten Leiche. Doch Wladimir Iljitsch Uljanow lag noch immer in seinem Mausoleum und empfing Gäste. Im Augenblick unter der Woche an vier Tagen, immer vormittags.
Lenin versammelte gerne Leute um sich.
Konstantin hatte einen Tee aus dem Samowar vor sich stehen und knusperte russische Kekse mit dem schönen Namen
bylo wkusno,
was so viel bedeutete wie
Es war lecker.
Er stippte und dippte genüsslich, auch wenn der Kellner verzweifelt versucht hatte, ihm etwas Italienisches aufzuschwatzen.
Die Moskowiter und Touristen zogen an ihm vorbei, während er den Tag genoss und über die Leiche des Revolutionärs nachdachte.
Klein, blass und unwirklich.
Hätte er eine derartige Arbeit bei Lilou abgeliefert, würde ihn der Marquis vermutlich vierteilen lassen.
Konstantin wollte nicht unfair sein, weil er wusste, wie lange die Leiche bereits dort lag und wie schlecht man sie jahrzehntelang behandelt hatte, weil man es nicht besser wusste, bis sie heute nichts weiter war als eine gruselige Touristenattraktion, um die sich Gerüchte rankten.
Selbst eine Wachspuppe sieht besser aus.
Vielleicht war das der Trick an der Sache: Lenin musste genau so aussehen, um die Besucher und ihre morbide Sensationslust zu befriedigen.
Man hatte Konstantin nach Moskau geholt, damit er die Mumie begutachtete, die unter ihrem Glaskasten lag, in der chemisch behandelten Kleidung, die alle paar Jahre für unglaublich viel Geld von einer Stiftung ausgetauscht wurde. Und alle achtzehn Monate musste Lenin neu einbalsamiert und in ein Kräuterbad versenkt werden, dessen Rezeptur die Verantwortlichen mit Konstantin besprochen hatten.
Das hätte ich mir nicht träumen lassen.
Er verfolgte, wie eine Gruppe asiatischer Touristen ins Mausoleum wollte und an der geschlossenen Pforte scheiterte.
Dass ich einmal von den Russen um Rat gefragt werde.
Mit seiner Hilfe und einer Rezeptkorrektur der Balsamierungsflüssigkeit hielt Lenin noch hundert Jahre durch, vielleicht sogar hundertfünfzig. Danach würden sich die Fehler der Vergangenheit zu stark auswirken. Formalinspritzen mit Zinkchlorid hatte man ihm nach seinem Tod eilends verpasst, eine lange Aufbewahrung war nicht vorgesehen gewesen. Darin lag das Problem.
»Ich kenne Sie doch.« Eine Frau, die vor seinem Tisch stehen geblieben war, riss ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte lange blonde Haare und trug ein weich fallendes, gemustertes Sommerkleid, das ihre Figur umspielte und im Gegenlicht leicht durchsichtig wurde. Mit einer roten Sonnenbrille schützte sie ihre Augen. »Ja, sicher! Sie sind der nette Mann, der sich fast alle unsere Proben und Konzerte anschaut. Sagen Sie nicht, Sie sind wegen unseres Auftritts hierhergereist?!«
Konstantin brauchte ein paar Sekunden, um sich von Lenin und dessen Geheimnissen zu lösen. Dann erkannte er sie.
Iva!
Die Cellistin aus dem Gewandhausorchester.
Mit ihr hatte er auf dem Roten Platz in etwa so sehr gerechnet wie mit der Queen von England, auch wenn er wusste, dass Teile des Orchesters auf Tournee im Osten waren. Deswegen war er nun so überrumpelt, dass es ihm die Sprache verschlug.
Er lächelte schließlich und bekam endlich ein »Hallo«, heraus.
Dabei bemerkte er durch eine schmale Lücke im Menschengetümmel einen älteren Mann mit Sonnenbrille, der eine Kamera mit einem großen Teleobjektiv in der Hand hielt und Fotos schoss. Was ihn inmitten des Gewusels
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