Oneiros: Tödlicher Fluch
ungefährlichen Schlaf. Die Angestellten des
Hôtel De Vendôme
sollten nicht zu Schaden kommen, falls er sie beim Betreten der Suite nicht hörte.
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IV
Ein ewig Rätsel ist das Leben,
Und ein Geheimnis bleibt der Tod.
Emmanuel Geibel, Lieder aus alter und neuer Zeit
Minsk, Weißrussland
I an McNamara saß auf dem Rücksitz eines Geländewagens, dessen Marke er nicht kannte. Vermutlich war es ein weißrussisches Eigenfabrikat. Im Kofferraum war das umfangreiche Gepäck untergebracht, sein Fahrer und ein weiterer Mann hatten vorne Platz genommen und unterhielten sich auf Russisch, während sie wie die Schlote qualmten. Gelegentlich lachte einer von ihnen. Für die beiden Männer schien McNamara nicht zu existieren.
Er sah aus dem dreckigen Wagenfenster und betrachtete das vorbeiziehende Minsk, das er noch nie richtig gesehen hatte.
Der Preis für das sehr hohe Gehalt und die Mitarbeit bei einem medizinischen Vorreiterprojekt waren Ausgangssperre und Kontaktverbot. Gelegentlich durften Nachrichten via Mail versandt oder knappe Telefonate geführt werden, um den Lieben zu Hause etwas über einen falschen Job in Afrika vorzulügen. McNamaras Schwester, die einzige Verwandte, die er noch hatte, glaubte, er wäre in Burkina Faso und würde in einem Krankenhaus arbeiten.
Graue Häuserfronten bestimmten das Stadtbild, als sie durch die Innenstadt kurvten.
McNamara hätte sich vor dem Heimflug gern ein Bier oder einen Wein in einer Kneipe gegönnt. Aber das würde er zu Hause nachholen, in Killarney, und sich die letzten Wochen mit Whiskey und Kilkenny aus dem Kopf spülen. Dann würde er nach einer Anstellung in irgendeinem kleinen Krankenhaus suchen. Um Patienten zu helfen, nicht um Gesunde zu verkrüppeln oder zu töten.
Sein Ehrgeiz war an der ganzen Sache in Minsk schuld. Er hatte sich geehrt gefühlt, dass Smyrnikov mit ihm zusammenarbeiten wollte.
Aber schon beim ersten Rundgang durch diese Alptraumklinik hatte sich ein dicker Kloß in McNamaras Hals festgesetzt, der auch nach Tagen und Wochen nicht verschwand. Die Experimente, die dort durchgeführt wurden, traten den Eid des Hippokrates nicht mit Füßen, sondern bearbeiteten ihn mit Macheten, Spitzhacken und Motorsägen.
McNamara seufzte. Er hätte gar nicht erst nach Minsk gehen sollen. Alles, was sich in den verschiedenen Abteilungen des Instituts abspielte, war gesetzeswidrig und verstieß gegen jegliche Ethik, der er sich als Arzt verpflichtet sah. Die Mediziner und Spezialisten, die Smyrnikov um sich scharte, erinnerten ihn an die Nazi-Ärzte, die Experimente mit KZ -Häftlingen durchgeführt hatten. Das waren Verbrecher.
Die Rechtfertigung für das grausame Treiben – für das Abschneiden von Köpfen, die Entnahme von Hirnen, die Untersuchungen des Zerebrums bei vollem Bewusstsein der armen Männer und Frauen, für die Transplantationen – hörte sich an wie ein Hohn.
McNamara wusste, dass er niemandem davon berichten durfte, auch wenn sein Gerechtigkeitssinn es verlangte. Er war sich sicher, dass Smyrnikov seine Drohung sonst wahr machen würde, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es ohnehin niemanden interessierte, was in Minsk geschah. Wer sollte gegen Smyrnikov intervenieren, wenn sich die Behörden und die Machthaber des Landes von ihm bestechen ließen? Über diplomatische Drohungen lachte man in Weißrussland.
Das Zeichen für Flughafen huschte vorbei – es zeigte in die entgegengesetzte Richtung.
McNamara verzog den Mund, doch seine Überraschung hielt sich in Grenzen. Damit hatte er gerechnet. Männer wie Smyrnikov hielten ihr Wort nicht. Die beiden Riesen auf den Vordersitzen hatten garantiert den Auftrag, ihn an einen abgelegenen Ort zu fahren und verschwinden zu lassen.
Es hatte ihn sogar gewundert, dass sie es nicht gleich in der Klinik versuchten. Vermutlich wegen der übrigen Wissenschaftler.
McNamara blieb ruhig, er war vorbereitet. Auch ein Chirurgieprofessor wusste mit Waffen umzugehen. An seinem zweiten Tag nach seiner Ankunft in Minsk hatte er dem Wachschutz am Eingang eine Pistole gestohlen. Der Mann hatte den Verlust wohl nicht gemeldet. Ein Magazin musste reichen, um zu entkommen.
Er nahm die Waffe, eine Makarov neun Millimeter, aus seiner Jacke, lud sie einmal durch, damit die Riesen wussten, woran sie waren, und drückte die Mündung in den Nacken des Fahrers.
»Zum Flughafen«, befahl er auf Englisch. Wenn er erst mal da war, sollte er sicher sein. McNamara ging davon aus, dass sie ihm in
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