Oneiros: Tödlicher Fluch
genau
das
hatte er immer vermeiden wollen.
Kein gutes Zeichen.
Sie aßen Kekse, tranken Tee und plauderten die Zeit davon.
Iva wurde wie er unbefangener und suchte ständig Augenkontakt. Sie hingen einander an den Lippen, lauschten auf jedes Wort. Beinahe hätte er seine Hand auf ihre gelegt.
Konstantin wusste bald, dass sie Ludovico Einaudi mochte, Cello und Klavier studiert hatte, in einer Band sang, Yoga machte und gerne tanzte. Sie sammelte sämtliche Comics mit Batman und konnte aus jedem der neueren Filme mit Christian Bale zitieren. Außerdem bezeichnete sie sich als miserable Köchin, konnte aber backen, weswegen ihr wenigstens Aufläufe gelangen. Ihr Vater war schon lange tot, ihre Mutter hieß Gabriele und lebte noch immer in Stralsund, ihre fünf Schwestern hießen Eva, Carmen, Magdalena, Evita und Selma. Und ja, Iva mochte ihre spanischen Wurzeln, denen sie die braunen Augen verdankte.
Es schien, als habe sie ebenso wie er auf diesen Tag gewartet, um ihm all das erzählen zu können, und nun sprudelte es hervor, wie um die Zeit, die sie mit ihrer Zurückhaltung vergeudet hatten, aufzuholen.
Irgendwann sah Iva in ihre leere Teetasse. »Toll. Ich rede und rede. Was war mit deinem Beruf, der dich so einsam macht?«
Ich kann dir stundenlang zuhören. Tagelang.
Doch anstatt diese Worte auszusprechen, zeigte Konstantin auf das Mausoleum. »Das mache ich.«
»Aha. Maurer sind einsam.«
»Bestatter und Thanatologe.«
Iva runzelte die Stirn. »Was ist denn …«
Klar, dass sie das nicht weiß. Wer kennt den Begriff schon?
»Einbalsamierung. Ich mache Leichen haltbar, wenn sie aufgebahrt oder über lange Strecken ohne durchgehende Kühlung transportiert werden sollen.« Er beobachtete ihre Reaktion genau. Eine erste Hürde – dabei wartete eine noch viel größere. Eine tödliche.
»Oh.« Sie drehte eine goldene Locke um den kleinen Finger. »Und du hast einen reichen Russen konserviert.«
»Nein. Keinen reichen. Einen berühmten. Lenin.« Weil er sah, dass in ihren dunklen Augen echtes Interesse aufleuchtete, berichtete er weiter. »Ich war bei der Leichenschau dabei, um die russischen Kollegen zu unterstützen. Sechzig Jahre lang haben sich etwa hundertfünfzig Pathologen, Biochemiker und andere Spezialisten um die Leiche gekümmert. Man hat wohl das Überdauern seiner Ideen an die Erhaltung seines Leichnams gekoppelt, was natürlich Unsinn ist. Jetzt würde man ihn am liebsten unter die Erde schaffen, aber die politischen Mühlen mahlen langsam.«
Iva blickte zum Mausoleum. »Heute ist geschlossen. Schade. Mit deinen Erklärungen wäre es bestimmt spannend gewesen.«
»Du verpasst nichts.«
»Und wie haben sie ihn haltbar gemacht?«
»Das ist geheim.« Konstantin machte ein bedauerndes Gesicht, das Iva auflachen ließ. Er freute sich über ihre Reaktion – und über ihr Interesse. »Aber ich kann es dir beschreiben: Die Balsamierungsflüssigkeit füllt die Zellen, anstatt sie auszutrocknen wie bei alten Mumien, und verdrängt Wasser sowie Bakterien. Der Gewebezerfall findet deshalb nicht statt. Mit den richtigen Umweltbedingungen und ein bisschen Make-up wird er richtig lange halten. Aber schön ist anders.«
Du bist schön.
Er lächelte.
»Das ist wohl wahr.« Dann sah sie ihn verwundert an. »Du hast mir nichts über dich erzählt. Abgesehen von deinem Job, den ich übrigens cool finde. Auch wenn es nichts für mich wäre.«
Konstantin schenkte ihr einen spitzbübischen Blick. »Ich wollte dich vorhin nicht in deinem Erzählen bremsen.«
Sie sah auf die Uhr und erschrak. »Oh, du meine Güte. Ich muss los! Die Proben!« Iva sprang auf, schnappte sich seine Tasse und trank seinen Tee mit einem Zwinkern aus. »Danke. Gibst du mir deine Nummer?«
»Wir sehen uns in Leipzig. Bei der nächsten Probe.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Versprochen?«
»Versprochen. Bestatterehrenwort.«
Bevor er sich ihrer Berührung entziehen konnte, beugte sie sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die rechte und auf die linke Wange; dadurch fiel sein Blick unweigerlich in ihren Ausschnitt, und er sah ihre taubengraue Unterwäsche, eine Mischung aus raffiniert und alltagstauglich. Ihre weiche Haut fühlte sich auf seiner an wie Samt.
Sie riecht unglaublich gut!
Dann war die junge Frau schon unterwegs. »Der nächste Tee geht auf mich«, rief sie von weitem.
»Die Kekse auch?«
»Die auch!« Iva winkte lachend, setzte die Sonnenbrille auf und lief los.
Konstantin blieb sitzen und sah ihr mit einem
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