Oneiros: Tödlicher Fluch
Monsieur Korff, aber das muss sie nicht schrecken. Niemand wird uns belästigen. Die Polizei hat den Zugang zur Kathedrale weiträumig abgesperrt.« Caràra zeigte nach links, wo Übertragungswagen standen. Kameraleute lungerten herum und unterhielten sich, Reporter machten Interviews mit Passanten, weil sie nicht wussten, was sie sonst anstellen sollten.
Der S-Type zog in sicherer Entfernung an ihnen vorbei und fuhr in eine provisorische Schleuse neben der Notre-Dame, die mit stoffverhängten Bauzaunelementen geschaffen worden war. Darin stiegen Caràra und Konstantin ungesehen aus und betraten die Kathedrale durch einen Seiteneingang.
Es war im Inneren kühler als gedacht. Das gedämpfte Licht, das durch die Fenster drang, tauchte das Kirchenschiff in ein sanftes, vielfarbiges Leuchten.
Konstantin hatte durch seine Tätigkeit etliche Kirchen, sogar Kathedralen gesehen, doch die Notre-Dame beeindruckte ihn vor allem durch die Stimmung, die darin herrschte.
Er und Caràra schritten nebeneinander auf den Mittelgang zu. Die harten Absätze des Sekretärs erzeugten ein geradezu blasphemisches Knallen, das unter seinen Sohlen in alle Richtungen davonschoss und hallte.
Den offenen Sarg sah Konstantin bereits von weitem. Rechts und links davon flackerten große Kerzen und beleuchteten Lilou de Girardin, zwei leere Stühle standen in wenigen Metern Entfernung.
Je näher sie kamen, desto aufmerksamer wurde er. Er sog mehrmals prüfend die Luft ein. Verwesungsgeruch sollte nicht zu riechen sein, er hatte im Vorfeld gute Arbeit geleistet.
Aber nichts war unmöglich.
Früher war in den Kirchen nicht nur zur Gottespreisung Weihrauch verbrannt worden, sondern weil die Leute stanken. Die Toten erst recht.
»Monsieur le Marquis wird Totenwache halten, und ich bleibe bei ihm«, erklärte Caràra die beiden Sitzgelegenheiten. Er setzte sich auf einen Stuhl. »Wenn Sie bitte anfangen möchten, Monsieur Korff?«
Konstantin nickte und stellte den Alukoffer auf dem Marmorboden ab, was trotz der Gumminoppen leise Geräusche hervorrief, die in der stillen Notre-Dame zu Lärm wurden. Er bemühte sich, noch leiser zu sein, als er die Verriegelung öffnete und den Deckel aufklappte, um an die Schminkutensilien zu gelangen.
Dann trat er an die Tote in ihrem letzten, weißen Bett heran und betrachtete sie kritisch, als Thanatologe und Bestatter, der seine Arbeit prüfte.
Alles war bis auf winzige Kleinigkeiten perfekt, kaum etwas musste korrigiert werden.
Haare, der Hautteint, Lippenfarbe,
ging er in Gedanken die Checkliste durch.
Der Mund und die Augen der Schönheit waren geschlossen. Vorsichtshalber prüfte er nochmals die Lider, schminkte die Ränder nach, untersuchte das Kleid auf eventuelle Flecken, die durch Kondensation entstehen konnten. Doch sein Balsamierungsfluid hatte gewirkt, nirgends gab es Anzeichen von unappetitlichen Malen.
Gut. Wie ich es mir dachte: alles sauber.
Konstantin richtete sich auf. Es schien, als hätte der Tod es nicht gewagt, ihr die faszinierende Ausstrahlung und ihre Anmut zu rauben.
Er betrachtete den Fingerschmuck, das Halsband mit dem Diamanten, die sie auf dem Foto trug, das ihm damals als Vorlage gedient hatte. An dem schönen Tag, an Deck eines Bootes, am Meer, umgeben von Wasser, Wind und Lebensfreude.
Konstantin sah zu Caràra. »Wir können gehen. Wie ich schon sagte, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
»Sehr gut, Monsieur Korff. Dann bringe ich Sie ins Hotel zurück. Der Marquis lädt Sie zur Trauerfeier ein, wenn Sie möchten.«
Konstantin musste keine Sekunde nachdenken. »Es wäre mir eine Ehre.«
Der Diamant blinkte bei seinem Abschiedsblick zu Lilou auf, als würde er nur für ihn glitzern.
Paris, Frankreich
Konstantin saß in seiner Suite und starrte auf den Bildschirm, ohne die Worte darauf wahrzunehmen.
Bald würde Caràra ihn abholen und zur Notre-Dame fahren, wo um die zehntausend Gäste und Schaulustige erwartet wurden. Seit heute morgen um zehn Uhr konnte man an der jungen Toten vorbeigehen und sich von ihr verabschieden – oder sie zum ersten Mal sehen und begaffen.
Vor seinem inneren Auge sah er Lilou de Girardin in ihrem Sarg. Perfekt, wundervoll.
Sein Blick fiel auf den Brief, der aus seinem Koffer ragte, mit der Handschrift darauf, die zu Iva gehörte. Es war die Nachricht, die er an Deck der
Vanitas
gefunden hatte. Ungeöffnet schleppte er sie überall mit hin. Sein Talisman. Sein Ansporn, nicht aufzugeben, bis er eine Lösung gefunden hatte und
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