Oneiros: Tödlicher Fluch
er frei vor Iva treten konnte. Frei von dem Fluch, von dem ungewollten Band mit dem Schnitter. Und frei von Wahrheiten ebenso wie Lügen, die zwischen ihnen standen.
Die Erinnerung an die letzte Begegnung mit ihr schmerzte. Die Szene am Küchentisch, auf dem sie sich geliebt hatten. Die so gut begann und so katastrophal endete.
Todesschläfer – ein Scherz, nein,
wie im Märchen
hatte sie gesagt. Jester hatte im Zusammenhang mit einer Lösung des Fluchs vom Glauben an das Schlaraffenland und Sterntaler gesprochen.
Konstantin fand den Vergleich nicht unpassend. Deren Geschichten standen in Büchern, wurden Kindern zur Unterhaltung, zum Belehren vorgelesen. Man konnte von Sterntalern schwärmen oder sich einen Aufenthalt im Schlaraffenland wünschen. Nichts davon gab es.
Ich bin der Held eines tragischen Märchens, ohne zu wissen, wie es endet.
Die dahingesagten Worte von Iva hallten in seinen Gedanken nach, wollten sich nicht verdrängen lassen. Sie erinnerten ihn an etwas, das er in Jesters Unterlagen gelesen hatte.
Märchen!
Konstantin prüfte Jesters Aufzeichnungen. Es gab das Märchen von Kali, aber hatte er sich, davon abgesehen, mit dieser Literaturgattung auseinandergesetzt? Aber anscheinend hatte sein Freund diesen Aspekt außer Acht gelassen. Er tauchte nicht mal auf der To-do-Liste auf, eines der letzten Dokumente, die Jester damals angelegt hatte. Weil es zu phantastisch war oder zu abgefahren? Gab es das Wort
unrealistisch
im Zusammenhang mit einem Todesschläfer überhaupt?
Konstantin suchte auf die Schnelle im Internet nach Märchen von, mit oder über den Tod. Ohne sie zu lesen, lud er Texte dazu runter, speicherte Links, kopierte sie in ein rasch eingerichtetes Verzeichnis. Eine weitere irrationale Hoffnung. Zuerst die legendären Schnittersteine, nun Märchen, Sagen und Legenden. Er musste wirklich verzweifelt sein, dass er sich Hinweise aus Kindergeschichten erhoffte.
Aber egal. Solange es etwas bringen könnte, versuche ich alles.
Nach dem Sterbeamt für die Demoiselle würde er sich näher damit beschäftigen. Jetzt musste er sich erst einmal umziehen.
Er schlüpfte für den Gottesdienst in ein schwarzes Hemd, legte eine Krawatte an und warf sich das Sakko über. Zusammen mit der Sonnenbrille und dem Hut würde ihn bestimmt niemand erkennen. Er wollte nicht, dass findige Fotografen herausfanden, wer er war. Solche Art Werbung wollte er keinesfalls.
Er verließ seine Suite und fuhr mit dem Aufzug in die Lobby, die er inzwischen in- und auswendig kannte. Er hielt Ausschau nach Paparazzi, die sich jedoch sicherlich geschlossen an der Kathedrale herumtrieben, um ihr widerliches Geschäft zu betreiben und möglichst viele Prominente »abzuschießen«.
Konstantin nahm sich mit der Zustimmung des Concierge einen der Regenschirme aus dem Ständer neben dem Ausgang, um ihn unter Umständen als Blickschutz benutzen zu können. Er rief Caràra an, um ihm zu sagen, dass er keinen Chauffeur benötigte. Ihm war nach einem Spaziergang. Bis zum Gottesdienst dauerte es noch eineinhalb Stunden.
Zeit genug, mir die Füße zu vertreten.
Er schlenderte die Rue de Rivoli entlang, vorbei an den Tuillerien, an der Glaspyramide des Louvre, folgte Hinweisschildern und wusste sich ungefähr auf dem Weg zur Notre-Dame.
Links von ihm tauchte weiter oberhalb an einer Kreuzung das Centre Pompidou auf, dann erschien rechts die Notre-Dame, vor der ein Großaufgebot an Polizei und privaten Sicherheitskräften aufgezogen war.
Das ging schnell.
Der Fußmarsch hatte nur etwas mehr als eine halbe Stunde gedauert, und Konstantin verspürte keine Lust, sich schon jetzt in das Gewusel zu stürzen.
Er sah sich etwas unschlüssig um. Dabei fiel sein Blick auf eine kleine Insel in der Seine, die als Île Saint-Louis ausgewiesen war. Sie wirkte wie ein Ruhepol, obwohl sie sich genau gegenüber der Kathedrale befand. Gebäude, die sehr alt erschienen, reihten sich dort dicht an dicht. Sein neues Ziel.
In wenigen Minuten hatte er die Brücke erreicht, die zu der Insel führte, und entdeckte in einer Straße, die Quai de Bourbon hieß, eine kleine Brasserie.
Konstantin nahm im Freien Platz, umgeben von Rauchern, Touristen und einer Handvoll Franzosen.
Von hier aus sah er das riesige Bauwerk auf der anderen Seite des Ufers, in dessen Inneren sich Demoiselle Lilou befand und von Freunden und Unbekannten verabschiedet wurde. Stumm, tränenreich, leidend, betroffen, apathisch, laut schreiend – Konstantin kannte jegliche
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