Oneiros: Tödlicher Fluch
ich. New York oder Washington?« Er ließ sie los und sah ihr in die Augen. Sein Argwohn war vergangen.
»New York. Jefferson hatte tolle Appartements«, gab sie zurück und streichelte seine Wange.
»Abgemacht.« Er trank seinen Rum aus, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
Sie schubste ihn spielerisch von sich. »Jetzt verschwinde zu deinen Freunden. Ich muss ohnehin gleich los, mein Flieger geht morgen früh. Aber ich rufe dich nächste Woche an, versprochen.«
»Wirklich?«
»Ja. Und jetzt geh.«
»Dann bis nächste Woche.« Clarence gab sich sichtbar einen Ruck und drehte sich um. Er schritt durch die Tür in den Privatraum.
Kristin sah auf die Uhr und wartete genau zehn Minuten. Dann stand sie auf und ging zu den Toiletten, um sich ungesehen in einer Kabine auf dem Männerklo einzusperren. Dort nahm sie den Elektroschocker aus der Tasche und legte ihn auf den Toilettendeckel, auch wenn sie nicht glaubte, dass sie ihn benötigte. Clarence würde kaum in der Lage sein, Gegenwehr zu leisten.
Nach einer halben Stunde und vielen unerwünschten Besuchern, inklusive einem Pärchen, das sich in der Kabine nebenan einen Quickie gönnte, hörte sie, wie die Tür aufgestoßen wurde und jemand ein Würgen unterdrückte.
Kristin sah unter dem Türschlitz hindurch.
Sie erkannte Clarences Beine. Angeschlagen vom Alkohol und dem Mittel, das sie ihm verabreicht hatte, torkelte er auf eine Kabine zu. Er schlug die Tür zu, danach erklang ein lautes Würgen, gefolgt von Platschen.
Kristin verließ ihr Versteck, sah sich schnell um und stellte erfreut fest, dass sie alleine waren. Daraufhin nahm sie das »Reinigung, kurz geschlossen«-Schild vom Haken neben dem Spiegel und hängte es an die Eingangstür. Mit einem Dietrich sperrte sie von innen ab. Damit hatte sie die wenigen Minuten Ruhe, die sie benötigte.
Während Clarence sich ächzend übergab, öffnete sie das große, vergitterte Fenster, vor dem sie ihren gemieteten Geländewagen geparkt hatte, einen alten grünen Wrangler mit offener Ladefläche. Zwei schnelle Schläge gegen die dünnen Eisenstreben, die sie letzte Nacht angesägt hatte, und das Metallgeflecht ließ sich zur Seite schleudern. Klirrend landete es auf der Straße.
Jetzt musste es schnell gehen.
Kristin brachte sich vor Clarences Kabine in Position und wartete, bis erneut Würgen erklang. Im selben Moment rammte sie die Tür auf, die ihn in den Rücken traf, so dass er mit dem Kopf nach vorne gegen den Wasserkasten knallte.
Schnaubend wollte er sich umdrehen.
»Nicht, Clarence.« Sie zog ihm die Beine weg und versetzte ihm einen harten Handkantenschlag in den Nacken. Er brach neben der Schüssel zusammen, begrub die Klobürste unter sich.
Nun begann der buchstäblich schwerste Teil: An den Füßen zog sie den muskulösen Mann aus der Kabine, schleifte ihn zum Fenster und hievte ihn mit gekonnter Technik durch die Öffnung – was ihr nur so gerade eben gelang. Er fiel in ein weiches Bett aus Jutesäcken auf der Ladefläche. Staub flog auf, als er in dem Haufen versank.
Kristin beugte sich nach vorne und breitete ein paar Säcke aus dem groben Stoff als Sichtschutz über dem Ohnmächtigen aus, eilte zu ihren Sachen und schnappte sie.
Stimmen erklangen vor der Tür, jemand machte sich am Schloss zu schaffen. Vermutlich hatte ein Gast mit einer kleinen Blase einen Mitarbeiter des
Esparcimiento
geholt.
Kristin zögerte, überdachte ihre Möglichkeiten. Sie konnte durch das Fenster flüchten, aber das offene Fenster – es ließ sich leider nicht von außen schließen – und das entfernte Gitter würden unverzüglich Aufmerksamkeit wecken, die sie nicht gebrauchen konnte. Sie benötigte einen kleinen Vorsprung, um Clarence aus der Dominikanischen Republik zu schaffen.
Kristin rannte zum Fenster und schloss es, hüpfte in Clarences vollgekotzte Kabine und verriegelte sie. Im nächsten Moment klickte es, und der Eingang wurde geöffnet.
Stimmen erklangen, gefolgt von einem Lachen. Aber es war nur ein einzelner Mann, der zum Pissoir schritt. Ein Reißverschluss wurde geöffnet, es plätscherte, gefolgt von einem lauten Furz und einem geseufzten »Yeeehaa!«.
Der Mann hatte eine große Blase. Es dauerte lange, bis er fertig war.
Kristin wurde ungeduldig, weil sie nicht wusste, wie es Clarence ging. Sie hatte ihm eigentlich längst das Gegenmittel zum Kotzpulver verabreichen wollen, damit der Brechreiz endete, und ihn mit einem Sedativ in einen unnatürlichen, tiefen Schlaf versetzen. Sein
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