Onkel Schwein (German Edition)
abzuholen, dankend abgelehnt hatte, hörte Teever Traurigkeit in Lisas Stimme. Es linderte Teevers Bedauern ein wenig, dass sie keine Zeit für ihn hatte. Außerdem wollte er Lisa auf keinen Fall bedrängen.
Sie versprach, sich sofort nach ihrer Rückkehr zu melden. Ihr war seine Niedergeschlagenheit nicht entgangen. Zu seiner Überraschung schlug sie ihm vor, etwas zu unternehmen. Er solle nicht zu Hause sitzen und Trübsal blasen, worauf er erwidert hatte, was man denn im Winter tun solle; Langlauf wäre nicht so sein Ding und Paddeln gehe ja wohl schlecht. Worauf Lisa nur in gespielter Naivität gefragt hatte, ob denn die Flüsse gefroren wären.
Am nächsten Morgen hatte sich Teever zwei Thermoskannen mit Kaffee gefüllt, Brote geschmiert, wie er sie zuletzt von seiner Mutter bekommen hatte und sich in die wärmsten Klamotten geschmissen, die er finden konnte. Im Spiegel sah er aus wie ein Michelin-Männchen und hatte Sorge, sich überhaupt bewegen zu können. Zumindest oben herum. Im Boot würde es dank der Spritzdecke an den Beinen nicht so kalt sein.
Er hatte seinen besten Kajak aus dem Schuppen geholt und unter den kritischen Blicken der Ente ins eiskalte Wasser getaucht. Dann war er vorsichtig eingestiegen und in den Sonnenaufgang gepaddelt. Die Folgen der Schläge Bergs behinderten ihn kaum noch.
Die Szenerie war fast schon unwirklich. Ein Zuschauer mit einem Sinn für das Dramatische hätte spontan applaudiert.
Obwohl er trotz der ganzen Klamotten überraschend beweglich war, fielen nach kurzer Zeit immer mehr Schichten seiner Kleidung. Teever schwitzte wie in der Sauna. Er war froh, auf die bewährte Zwiebeltechnik zurückgegriffen zu haben. Glucksend tauchte das Paddel ein ums andere Mal in den schwarzen Fluss. Unmerklich wurde er immer schneller. Anfänglich hatte er auf triste Gedanken, auf Grübeleien gewartet, doch die stellten sich nicht ein. Eine lang vermisste Leichtigkeit trotz der körperlichen Beanspruchung ergriff ihn und sein Kopf wurde leer. Er nahm die wunderschöne Natur um sich herum, die pittoresken Figuren aus gefrorenem Flusswasser oder die verschneiten Bäume nur noch am Rande als hübsches Beiwerk wahr. Gelegentlich sah er ein verlassenesSommerhaus, aber der Gedanke an Waldéns Hütte am Asasjön war nur ein kurzes Aufflackern. Dass seine Arme von der ungewohnten Dauerbelastung schmerzten und er wie eine Dampflok weiße Atemwolken ausstieß, merkte Teever erst, als er sich die erste Pause gönnte und einen dampfenden Kaffee einschenkte. Locomotive Breath. Er sang!
Ein Entenpaar schwamm vorbei. Mit den beiden Vögeln teilte er sein Brot. Durst hatten sie keinen.
Gegen Mittag wendete er. Es war Wind aufgekommen. Der Fluss durchquerte immer wieder Seen, die von der Strömung offengehalten wurden und auf denen es sehr kabbelig war. Teever passte auf: Ein Kentern wäre zu dieser Jahreszeit und bei diesen Temperaturen nicht ungefährlich.
Strömung und der Rückenwind beflügelten Teever. Allerdings wich die erste Euphorie bald der Erschöpfung, doch auch das war ein gutes Gefühl. Zum ersten Mal seit langem, wenn man von den Schlägen Bergs absah, spürte er seinen Körper. Er würde in der Nacht vielleicht einmal tief und fest schlafen.
Er paddelte wie ein Uhrwerk. Gedanken kamen und gingen. Manche wichtig und andere unerklärbar. So fragte sich Teever, an wie vielen Tagen seines Lebens er, so wie heute, keinen Menschen gesehen hatte. Immer hatte er jemanden um sich gehabt, egal wie einsam er sich auch gefühlt hatte. Zuerst seine Familie, dann ein, zwei Freundinnen, lange Zeit Catharina, danach Helgi. Dazu Axelsson und Wilhelmsson. Und jetzt Lisa? Konnte er überhaupt allein sein? War das notwendig?
Während das Paddel rhythmisch und glucksend in das kalte Wasser stach, überschlug er grob: Vierzig Jahre mal 360 Tage waren ungefähr vierzehntausend Tage. Davon wie viele ganz ohne andere Menschen?
Teever dachte lange nach.
Heute. Ein Tag. Nur ein Bruchteil von vierundzwanzig Stunden. Von achthundertvierzigtausend Lebensstunden.
Als er kurz vor seiner Kanuzentrale auf seine geliebte Armbanduhr sah, wusste Teever nicht nur, dass er fast acht Stunden gepaddelt war und die Dunkelheit ihn schon fast umschlossen hatte, sondern plötzlich auch, was er Wilhelmsson immer fragen wollte. Und dass er einen schlimmen Muskelkater bekommen würde.
27. Dezember: Johan
Teever stand über dem Kind. Blut lief aus dem kleinen runden Gesicht auf den dunklen Asphalt. Ein Vogel setzte sich auf
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