Onkel Toms Hütte
Zweck hat. Das hilft ihnen nicht bei der Arbeit, und zu etwas anderem sind sie nicht da.«
»Aber sie müßten die Bibel lesen, um Gottes Willen zu erfahren.«
»Oh, das kann man ihnen notfalls vorlesen.«
»Mir schient, Mama, die Bibel sollte jeder selbst lesen. Sie brauchen es so oft, wenn niemand da ist, der ihnen vorliest.«
»Eva, du bist ein merkwürdiges Kind«, sagte ihre Mutter.
»Tante Ophelia hat Topsy auch das Lesen gelernt«, fuhr Eva fort.
»Ja, und du siehst, was dabei herauskommt. Topsy ist der schlimmste Teufelsbraten, den ich kenne.«
»Zum Beispiel die arme Mammy! Sie liebt die Bibel so sehr und wünscht sich heiß, sie könnte lesen. Was soll sie anfangen, wenn ich ihr nicht mehr vorlesen kann?«
»Na, langsam wirst du auch andere Dinge im Kopf haben, Eva, als unseren Leuten die Bibel vorzulesen. Ich will nicht sagen, daß es sich nicht gehört. Als ich noch bei Kräften war, habe ich es selbst getan. Aber wenn du später schöne Kleider trägst und Gesellschaften besuchst, wirst du keine Zeit mehr dazu haben. Sieh einmal«, setzte sie hinzu, »diese Juwelen werde ich dir zu deinem ersten Ball schenken. Ich trug sie damals auch. Und ich kann dir sagen, Eva, ich habe riesiges Aufsehen erregt.«
Eva nahm das Kästchen und hob einen Brillantenhalsschmuck in die Höhe. Ihre großen nachdenklichen Augen blieben daran haften. Aber ihre Gedanken weilten offensichtlich ganz woanders.
»Wie merkwürdig du aussiehst, Kind!« sagte Marie.
»Sind sie viel Geld wert, Mama?«
»Aber gewiß. Sie kosteten ein kleines Vermögen.«
»Ich wollte, ich hätte sie schon«, sagte Eva, »dann machte ich damit, was ich wollte.«
»Was würdest du denn mit ihnen anfangen?«
»Ich würde sie verkaufen und in den freien Staaten ein Gut erwerben, alle unsere Leute dorthin bringen und Lehrer anstellen, damit sie schreiben und lesen lernen.«
Eva wurde durch das Gelächter ihrer Mutter unterbrochen.
»Eine Volksschule einrichten! Willst du ihnen nicht auch Klavierspielen und Samtmalerei beibringen?«
»Nein«, sagte Eva ungerührt. »Ich will, daß sie lernen, die Bibel zu lesen und ihre Briefe zu schreiben und auch die Briefe, die sie bekommen, zu lesen. Ich weiß, Mama, wie arg es ihnen ist, daß sie dies alles nicht können. Tom leidet darunter – Mammy auch – und noch viele andere. Das ist nicht richtig.«
»Komm, Eva, du bist nur ein Kind. Du verstehst diese Dinge nicht«, sagte Marie, »außerdem bekomme ich Kopfweh, wenn du soviel sprichst.«
Marie hatte immer ein Kopfweh zur Hand, sobald eine Unterhaltung nicht ganz nach ihrem Geschmack verlief. Eva stahl sich davon; aber von jetzt an gab sie Mammy unverdrossen Lesestunden.
22. Kapitel
Henrique
Zu dieser Zeit kam St. Clares Bruder mit seinem ältesten Sohn auf ein, zwei Tage zu Besuch an den See. Beide Zwillingsbrüder boten einen ungewöhnlich schönen Anblick. Die Natur hatte anstatt einer Ähnlichkeit den Gegensatz zwischen beiden herausgearbeitet, jedoch waren beide durch ein geheimnisvolles Band in ungewöhnlich enger Freundschaft miteinander verbunden. Arm in Arm schlenderten sie zusammen durch den Garten – Augustin mit seinen blauen Augen, dem blonden Haar, den lebhaften Zügen und der biegsamen Gestalt und der dunkeläugige Alfred mit seinem stolzen römischen Profil, seinen stattlichen Gliedern und der entschlossenen Haltung. Sie hörten nicht auf, einander zu schmähen, und doch genossen sie ihr Zusammensein, ja ihre Gegensätzlichkeit schien sie wie die beiden Pole eines Magneten gegenseitig anzuziehen.
Henrique, Alfreds ältester Sohn, war ein vornehmer, dunkelhäutiger Knabe, aufgeweckt und lebhaft, schon nach der ersten Bekanntschaft war er von der vergeistigten Anmut seiner Kusine Evangeline hingerissen.
Eva hatte ein kleines, schneeweißes Lieblingspony, so sanft wie seine Herrin, und dieses Pony brachte jetzt Tom an die hintere Veranda, während ein Mulattenjunge von ungefähr dreizehn Jahren einen kleinen, schwarzen Araber heranführte, der erst vor kurzem für Henrique gekauft worden war.
Henrique war knabenhaft stolz auf diesen neuen Schatz; als er jetzt herantrat und dem kleinen Reitknecht die Zügel abnahm, musterte er das Pferd genau, und sein Gesicht verfinsterte sich.
»Was soll das heißen, Dodo, du Faulpelz, du hast mein Pferd heute morgen nicht abgerieben?«
»Doch, Herr«, sagte Dodo unterwürfig. »Er ist selber wieder staubig geworden.«
»Halt den Mund, du Spitzbube!« rief Henrique und hob heftig die
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