Onkel Toms Hütte
seine Flucht, daß er seine arme alte Mutter auspeitschen ließ. Da ist er den ganzen Weg zurückgekommen, um sie zu trösten und eine Gelegenheit zu suchen, um sie mitzunehmen.«
»Ist ihm denn das gelungen?«
»Noch nicht. Er ist um das Gut herumgestrichen und fand noch keine Möglichkeit. Inzwischen begleitet er mich nach Ohio zu Freunden, die ihm helfen, und dann kehrt er nochmals zurück.«
»Gefährlich, höchst gefährlich!« sagte der alte Herr.
Georg richtete sich auf und lächelte verächtlich.
Der alte Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß und konnte ein unschuldiges Erstaunen nicht verbergen.
»Georg, du hast dich großartig verändert. Du trägst deinen Kopf hoch und sprichst und gehst wie ein anderer Mensch«, sagte er.
»Weil ich ein freier Mann bin«, erwiderte Georg stolz. »Ja, ich habe zum letztenmal in meinem Leben zu einem Menschen ›Gnädiger Herr‹ gesagt, jetzt bin ich frei.«
»Nimm dich in acht. Noch bist du nicht sicher. Noch können sie dich ergreifen.«
»Alle Menschen sind frei und gleich im Grabe, wenn es dazu kommt, Mr. Wilson.«
»Deine Kühnheit verschlägt mir tatsächlich den Atem. Geradewegs hier im ersten Gasthof abzusteigen!«
»Mr. Wilson, weil es so kühn ist und der Gasthof so nahe, werden sie nie darauf kommen. Sie suchen mich in weiter Ferne, und Ihr selbst hättet mich kaum erkannt. Jims Herr wohnt nicht in dieser Gegend, er ist hier völlig unbekannt. Außerdem hat man ihn aufgegeben, niemand sucht ihn mehr, und mich wird niemand nach dem Steckbrief entdecken.«
»Aber das Zeichen in deiner Hand?«
Georg streifte seinen Handschuh ab und zeigte eine frisch verheilte Narbe auf seiner Handfläche.
»Das ist ein Abschiedsgeschenk von Mr. Harris«, sagte er zornig. »Vor vierzehn Tagen ungefähr kam er auf den Gedanken, es mir zu verabreichen, es war ihm nicht geheuer mit mir. Sieht interessant aus, nicht wahr?« fügte er hinzu, den Handschuh wieder anziehend.
»Ich muß sagen, mir erstarrt das Blut in den Adern, wenn ich mir das ausmale, deine Lage und alle Gefahren!« entgegnete Mr. Wilson.
»Mir ist es viele Jahre in den Adern erstarrt, Mr. Wilson. Zur Zeit ist es beinahe am Kochen«, erwiderte Georg.
»Also, verehrter Mr. Wilson«, fuhr Georg nach kurzem Schweigen fort, »ich sah gleich, daß Ihr mich erkannt hattet. Da hielt ich es für das beste, Euch um diese Unterredung zu bitten, sonst hätten mich am Ende Eure erstaunten Blicke verraten. Ich werde morgen frühzeitig aufbrechen. Morgen abend gedenke ich sicher in Ohio zu schlafen. Ich werde bei Tageslicht reisen, in den besten Hotels einkehren und mit den Herren des Landes speisen. Lebt wohl, mein Herr. Solltet Ihr hören, daß man mich ergriffen hat, dann wißt Ihr, daß ich nicht mehr am Leben bin!«
Georg stand aufrecht wie ein Fels da und reichte dem alten Herrn die Hand mit der Gebärde eines Prinzen. Der freundliche, kleine alte Mann schüttelte sie herzlich, ergriff dann unter manchen Ermahnungen seinen Regenschirm und verließ umständlich das Zimmer.
Georg blickte nachdenklich auf die Tür, die sich hinter dem alten Mann geschlossen hatte. Plötzlich schien ihn ein Gedanke zu durchzucken. Eilig hastete er zur Tür, öffnete sie und rief:
»Mr. Wilson, bitte noch auf ein Wort.«
Der alte Herr kam zurück, und Georg verriegelte die Tür abermals. Dann stand er noch einen Augenblick unentschlossen da, ehe er mit plötzlicher Anstrengung den Kopf hob:
»Mr. Wilson, Ihr habt Euch gegen mich immer als ein Christ erwiesen, darf ich Euch noch um einen letzten Beweis Eurer Nächstenliebe bitten?«
»Gewiß, Georg.«
»Ach, Ihr habt ja recht. Ich begebe mich in große Gefahr. Keine Seele wird es kümmern, wenn ich sterbe«, sprach er und holte tief Atem. Dann fuhr er mit Anstrengung fort. »Sie werden mich wie einen Hund verscharren, und keiner wird mir noch einen Gedanken widmen – außer meiner armen Frau. Armes Herz! Sie wird trauern und sich grämen. Wenn Ihr es vermöchtet, ihr diese kleine Nadel zu senden. Sie schenkte sie mir zu Weihnachten, das arme Kind. Gebt sie ihr und sagt ihr, ich hätte sie geliebt bis an mein Ende. Wollt Ihr das, wollt Ihr das tun?« fragte er in tiefem Ernst.
»Aber natürlich, mein armer Freund!« antwortete der alte Herr, die Nadel nehmend, seine Augen waren feucht und seine Stimme bebte.
»Und sagt ihr das eine: Es sei mein letzter Wunsch, wenn sie die Möglichkeit hat, nach Kanada zu gehen, mag ihre Herrin noch so freundlich und ihre Heimat noch so traut
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