Onkel Wanja kommt
angeschossenen Hirsches anhörte, nicht wie die gezogene Bremse einer Maschine. Wenige Minuten später schälte sich bereits mein Onkel aus dem Nebel. Er hatte sich kein Stück verändert, er war nur irgendwie kleiner geworden. Oder ich war in der Zwischenzeitzone gewachsen? Wir umarmten uns herzlich, dann nahm ich seinen Koffer – und ließ ihn vor Schreck beinahe wieder fallen.
»Backsteine?«, fragte ich ihn.
»Ja, Backsteine!«, nickte mein Onkel. »Sie sind mein Talisman, ich fahre niemals ohne Backsteine los.«
Des Onkels leuchtende Hose
Mein Onkel sah aus wie ein Sandmännchen auf der Flucht mit seinem riesigen Koffer, einer Zipfelmütze, schwarzer Lederjacke und einer in der Dunkelheit glitzernden Hose, die aus einem speziellen Licht widerspiegelnden Material genäht war. Solche Menschen ziehen oft unnötig die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich, weil Polizisten bunt angezogene alte Lebemänner oft als Irre einschätzen, die eine Gefahr für die stilvoll angezogene bürgerliche Gesellschaft darstellen. Zum Glück war mein Onkel nicht allein aus dem Zug gestiegen. Eine große Gruppe leicht angetrunkener, geschäftstüchtiger Männer – Russen und Kasachen –, korrekt in weiße Hemden und schwarze Anzüge gekleidet, hatte ebenfalls den Zug verlassen. Sie redeten laut und gestikulierten heftig.
Wenn mehr als zwei Menschen auf engem Raum, zum Beispiel in einem Zugabteil, zusammenkommen, ist es in Russland Sitte, dieses Ereignis zu feiern und darauf zu trinken. Selbst Graf Leo Tolstoi, Anhänger eines gesunden Lebens und großer Bekämpfer der russischen Sauferei, äußerte sich misstrauisch über die Gründung der russischen Nüchternheitsversammlungen, der Vorboten der Anonymen Alkoholiker. Man muss sich nicht versammeln, um nicht zu trinken, fand Tolstoi. Das könne jeder für sich zu Hause tun. Wenn man aber zusammenkomme, dann nicht, um traurig herumzusitzen, und da gehöre das Trinken schon dazu.
Die Kasachen und die Russen aus dem Zug waren, ihrem Gespräch zu entnehmen, Reiseunternehmer, die nach Berlin zur ITB , der großen internationalen Tourismusmesse, gekommen waren und schon im Zug angefangen hatten, einander leckere touristische Angebote zu unterbreiten. Sie redeten über Angel- und Jagdmöglichkeiten in ihrem jeweiligen Heimatland, über Vögel, Bären und Ziegen, die zum Abschuss bereitstünden.
»Wir haben letztes Jahr die Zählung von Bären abgeschlossen«, sagte ein Russe. »Ungefähr 1500 leben auf unserem Gebiet. Davon brauchen wir höchstens ein Drittel, 1000 Bären können daher jederzeit abgeschossen werden. Wir haben genug fähiges Personal vor Ort, das den Bären innerhalb von 24 Stunden ausstopft, sodass jeder Tourist seine Trophäe gleich mitnehmen kann!«, gab er an.
Dem Onkel und mir taten die Bären leid, doch wir wollten uns nicht in fremde Geschäfte einmischen. Diese angetrunkenen Reiseunternehmer aus dem Osten sahen aus wie Staatsmänner, nicht wie Kapitalisten. Kein Wunder: Irgendwie ist der russische Kapitalismus tatsächlich staatlich. Er wird auf Befehl des Staates aufgebaut wie zuvor der Sozialismus und funktioniert von oben nach unten. Irgendwann bauen sie ihn auf Befehl des Staates auch wieder ab.
»Und wir haben eine große Mufflon-Population«, gab der Kasache an. »Sie wissen schon, diese wilden Bergziegen mit den verdrehten Hörnern. Unsere Leute vor Ort können ihn ausstopfen, bevor der Tourist neu geladen hat.«
Die blutrünstigen Reiseunternehmer liefen an uns vorbei in Richtung Ausgang. Zwei russische Großfamilien, die ebenfalls aus dem Zug gestiegen waren, wur den von ihren Verwandten abgeholt. Mein Onkel und ich verließen als Letzte den Bahnsteig und gingen vor den Bahnhof an die frische Luft. Kein einziges Taxi weit und breit. Ich hatte schon auf dem Weg zum Bahnhof Schwierigk eiten gehabt, eines zu finden, und gedacht, die ITB hätte den Engpass verursacht. Dass nun auch nachts nirgends Taxis zu finden waren, schien mir neu zu sein. Die Großfamilien aus dem Zug hatten ihre eigenen Fahrzeuge neben dem Bahnhof stehen, die Reiseunternehmer gingen wie echte Touristen zu Fuß. Mein Onkel und ich standen eine Weile hilflos auf der Straße, in der Hoffnung, dass etwas passierte, beschlossen dann jedoch, uns langsam vorwärtszubewegen, soweit die Füße trugen. Ich nahm den Koffer, mein Onkel erhellte uns mit seiner reflektierenden Hose den Weg. Wir kamen an eine Kreuzung und bogen nach rechts ab in die Invalidenstraße, eine der schönsten
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