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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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Durchgangsstraßen Berlins.
    Rechts von uns klaffte eine riesige Baugrube, wo früher Skulpturen aus Sand ausgestellt worden waren. Links von uns befand sich der Hamburger Bahnhof, ein Museum für zeitgenössische Kunst, ein Zauberraum, der imstande war, jede Mülltüte in Kunst zu verwandeln, sobald sie dort Eingang fand. An dem Tag fand darin ein »Soma-Projekt« statt. Auf großen Plakaten, die vor dem Museum hingen, waren Pferde, Pilze und Kanarienvögel abgebildet. Mein Onkel wollte wissen, was diese recht unterschiedlichen Lebewesen verband und worum es in der Ausstellung ging. Ich hatte sie mir in der Woche zuvor mit einem Freund zusammen angesehen, aber wenig verstanden. Es ging dabei anscheinend nicht um Pferde oder Pilze, sondern um ein Getränk namens Soma – angeblich ein Rauschgetränk der Ur-Arier, das ihnen nach regelmäßiger Einnahme eine besondere Nähe zu den Göttern sicherte, dessen Rezeptur jedoch zwischen den Jahrtausenden verloren gegangen sei, auf jeden Fall war es nicht eindeutig überliefert.
    So, wie ich die modernen Arier kannte, hätte ich bei diesem Getränk auf Bier mit Korn getippt, doch der Künstler, der dieses Projekt durchführte, ging in seinen Untersuchungen viel weiter. Nach unzähligen Untersuchungen alter Schriften und Knochen war er zu dem Schluss gekommen, dass es Fliegenpilze waren, die, von Pferden gefressen, eine Rauschsubstanz in deren Urin bildeten. Und diesen haben die Ur-Arier dann wohl getrunken, um in die Nähe der Götter zu gelangen. Unklar blieb mir zunächst, welche Rolle die Kanarienvögel dabei spielten. Hatten die Ur-Arier vielleicht Kanarienvögel mit Zitronen verwechselt und sie als Geschmacksverstärker in ihre Drinks gepresst? Auf jeden Fall roch es im Hamburger Bahnhof sehr stark nach Urin, als wir die Ausstellung besuchten. Der Künstler hatte dort auf relativ engem Raum jede Menge Pferde und Kanarienvögel platziert, allerdings durfte man das fertige Produkt aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht kosten, dafür aber für 1000,– Euro ein Bett mieten und die ganze Nacht unter Pferden, Pilzen und Vögeln im Hamburger Bahnhof verbringen, um das Lebensgefühl der Ur-Arier am eigenen Leib zu spüren.
    Mein Onkel hörte sich diese Geschichte an und sagte, er könne das Lebensgefühl der Ur-Arier gut nachvollziehen. Auch er habe schon mehrmals in seinem Leben in einem Pferdestall übernachtet, allerdings nicht für 1000,– Euro, sondern für umsonst. Im Übrigen fände er die deutsche Monumental-Architektur sehr liebenswert, fügte er hinzu. Ich staunte über den Architektur-Geschmack meines Onkels. Was konnte an diesen grauen Riesenklötzen liebenswert sein? Wir gingen gerade an einem solchen Gebäude, dem Sitz des Wissenschaftsministeriums, vorbei. Richtig ausgeschrieben hieß der Klotz Bundesministerium für Wissenschaft und Arbeit, wenn ich mich richtig erinnere.
    Mein Onkel, der sich schon immer für die Wissenschaft interessiert hat und sogar selbst eine Zeit lang in einem geheimen sowjetischen Wissenschaftsinstitut als Aushilfshausmeister tätig gewesen war, blieb vor dem Ministerium stehen, als ich auf das Haus zeigte. Das Gebäude in der Invalidenstraße sah wie ein Grabmal aus, errichtet, um die Hoffnungen der Menschen auf baldige Rettung durch den Einsatz der modernen Wissenschaften zu beerdigen. Im zwanzigsten Jahrhundert hatten viele in der Wissenschaft die Antwort auf alle Fragen der Zukunft und Zivilisation gesehen, sie war der große Trumpf der Menschheit in ihrem Kampf um die Verbesserung der Welt gewesen, ein großes Versprechen, dass es eben doch geht: aus eigener Kraft diesen unvollständigen Planeten zu einem Paradies umzubauen, mit dem neu gewonnenen Wissen ein Reich des Glücks ohne Hunger und Not zu errichten. Zunächst schien alles möglich. Die verrücktesten Projekte wurden realisierbar: Jeder würde zum Mond fliegen, Mini- AKW s alle Probleme im Haushalt lösen. Nicht viel ist davon heute geblieben, die wissenschaftlichen Entdeckungen des letzten Jahrhunderts haben eigentlich nur Kinder und Musikliebhaber glücklich gemacht.
    Früher in Odessa hatten wir mit meinem Onkel viel und oft über die großen wissenschaftlichen Themen diskutiert. Er hatte damals gerade ein Zimmer in einer Kommunalwohnung auf der Allee der Kosmonauten, und seine Nachbarn in den anderen Zimmern interessierten sich ebenfalls sehr für die Wissenschaft. Auf jeden Fall hatten sie in der gemeinsamen Toilette eine ganze wissenschaftliche Bibliothek an

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