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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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Büchern und Zeitschriften angesammelt. Wie jeder andere in der Wohnung verbrachte ich möglichst viel Zeit auf der Toilette mit der Lektüre der neuesten Zeitschriften. Es war der einzige Ort in der ganzen Wohnung, an dem man sich ungestört der Wissenschaft widmen konnte. Besonders faszinierte mich damals das Wissensmagazin Japan heute . Darin wurde von einer ganzen Reihe bahnbrechender Entdeckungen in Biologie und Medizin berichtet. Zwei davon sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Zum einen präsentierte die Zeitschrift kernartige Zahnimplantate, die im Mund des Patienten selbstständig und schnell zu richtigen Zähnen he ranwuchsen. Zum anderen ging es um Mikrorobo ter, die in einer Kapsel vom Patienten geschluckt wurden. Im Körper des Patienten löste sich die Kapsel auf, die Mikroroboter setzten sich in Bewegung, erkannten krankes Gewebe und schnitten mit einer Mikroschere beispielsweise Krebszellen heraus.
    Solche Nachrichten waren damals an der Tagesordnung. Nicht nur in Japan, auch in der Sowjetunion gab es jede Woche Wissenschaftliches zu bestaunen. Mal schossen wir eine Sonde zur Sonne, mal zum Mond. In Odessa gab es in einer Klinik bereits einen lebenden Affen mit einem künstlichen Herzen, und die Tuberkulose war am Verschwinden. Trotzdem traute mein Onkel nur den japanischen Wissenschaftlern zu, den ultimativen Durchbruch zu schaffen. Gemeint war damit natürlich die Unsterblichkeit.
    »Ich beneide eure Generation«, sinnierte mein Onkel, wenn er nach mehrstündigem Studium der Zeitschriften die Toilette wieder verließ und ich schon darauf wartete, dass sie frei wurde. »Beim heutigen Stand der Forschung werdet ihr endlos und im Luxus leben.«
    Ich habe ihm damals versprochen, an ihn zu denken, falls die Japaner in hundert Jahren auch noch ein Elixier erfanden, das Tote wieder zum Leben erweckte. Seitdem sind bereits mehr als dreißig Jahre vergangen, und mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Noch immer sterben Menschen an Krebs, viele laufen ohne Zähne herum, und alles fällt allen heraus. Und was machen die Japaner? Sushi! Entweder war diese Zeitschrift auf der Toilette meines Onkels eine Provokation des KGB , oder die Asiaten haben uns die ganze Zeit verarscht.
    Zum Glück ist mein Onkel auch ohne japanische Elixiere noch guter Dinge. Schon mehrmals hat er mir von seiner Arbeit im Institut zur Erforschung der Spiegelung des Sonnenlichts berichtet. Die Lichtforschung stand in der Sowjetunion lange Zeit ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Die Kommunisten wollten diese Gottesschöpfung verbessern, sie brauchten mehr Licht. Im Alten Testament stand es schwarz auf weiß: »Es werde Licht«, soll der Schöpfer gesagt haben, und es wurde hell. Es wurde jedoch nur tagsüber hell. Nachts blieb es dunkel. Die Russen wollten das ändern. Nach der Revolution verspürten sie einen großen schöpferischen Drang und gaben sich alle Mühe mit der allgemeinen Verbesserung der Welt. Der neue verbesserte Mensch sollte in einer neuen verbesserten Umwelt leben und arbeiten, das war die sozialistische Vision. Nachdem den Russen der große Durchbruch bei der Eroberung des Weltalls gelungen war – sie hatten den ersten Menschen ins All geschossen –, schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis man die Sonnenstrahlung von einem halben Tag auf 24 Stunden erweitern konnte, und zwar mit Hilfe eines kosmischen Spiegels, der, zwischen zwei Satelliten aufgespannt, das Sonnenlicht auf die dunkle Seite der Erde lenkte. Damit wäre die sogenannte Nacht für immer abgeschafft und würde als Teil der dunklen Vergangenheit auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.
    Es wurde ein wissenschaftliches Institut zur Spiegelung des Sonnenlichts gegründet, das Projekt hatte hohe Priorität. Es wurde geheim gehalten und mit großer Aufmerksamkeit von der Regierung verfolgt. Jedes Jahr wurden ihr die Forschungsfortschritte vorgeführt. Es muss nicht extra betont werden, dass der sowjetischen Regierung auch die militärische sowie politische Bedeutung dieses Projektes bewusst waren. Durch den kosmischen Spiegel bekäme man die Macht über das Sonnenlicht und könnte es manipulieren. Es wäre also rein theoretisch auch möglich gewesen, den Spiegel so einzurichten, dass es nur in der Sowjetunion und in den anderen sozialistischen Ländern hell, in den kapitalistischen Ländern dagegen immer dunkel bleiben würde. Rein theoretisch. In der Praxis sollte es natürlich überall hell werden, auch in Amerika. Vielleicht nicht die

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