Onkel Wanja kommt
Direktor war: Nach dem Besuch des pädagogischen Instituts schrieb er an einer Doktorarbeit: »Die Grundlinien der beruflichen Orientierung der sozialistischen Jugend« – und dazu wollte er uns interviewen. Er wollte wissen, was wir werden wollten und warum. Wir waren froh, dass der langweilige Unterricht ausfiel, außerdem sahen die meisten Kinder so ein Tonbandgerät zum ersten Mal. Ich interessierte mich ebenfalls für die Entwicklung der sozialistischen Jugend und schrieb fleißig alles mit. Ich wollte auf diese Weise die Zukunft erahnen. Die Mädchen aus unserer Klasse entschieden sich allesamt für nützliche Berufe: Friseuse, Kinderärztin, Lehrerin und Köchin wollten sie werden. Gleich drei Mädchen wollten als Qualitätsprüferin bei einer Schokoladenfabrik arbeiten. Die Jungs dachten nur an die eigene Selbstdarstellung: Sie wollten Verkehrspolizisten, Bombenkonstrukteure, Auslandsspione und Kosmonauten werden. Einer wollte eine Offizierslaufbahn einschlagen, das war bei ihm jedoch familienbedingt. Sein Vater war Offizier und sein Großvater sogar General gewesen.
Ich glaube, meine Klassenkameraden haben sich nie ernsthaft Gedanken über ihre berufliche Zukunft gemacht, sie hatten es auf die schicken Uniformen abgesehen. Was kann schöner sein, als in einer Armeeuniform auf einem Panzer stehend über den Roten Platz zu fahren oder mit einem quergestreiften Stock und einer Mütze mit Kokarde an einer Kreuzung zu stehen oder noch besser in einem weißen Raumanzug im Mondlicht leuchtend an einer Raketenschraube zu drehen? Sie haben natürlich nie über die Risiken und Nebenwirkungen all dieser Berufe nachgedacht. Sie haben beispielsweise nicht bedacht, dass Verkehrspolizisten von so vielen Verkehrsteilnehmern gehasst werden, dass es sich negativ auf ihre geistige Gesundheit auswirkt, und dass Kosmonauten, die viel Zeit in der Schwerelosigkeit verbringen, monatelang nicht aufs Klo gehen dürfen. Stattdessen müssen sie sich jeden Tag an spezielle Kosmonautenmelkmaschinen anschließen, um sich mittels Schläuchen zu erleichtern, was unbequem und schmerzhaft ist. Das alles wussten meine Klassenkameraden nicht. Ihre Berufswünsche waren Ausdruck ihrer Leidenschaften, nicht des Pragmatismus – abgesehen von den Qualitätsprüferinnen in der Schokoladenfabrik vielleicht, bei denen Pragmatismus und Leidenschaft zusammenkamen. Wenn es nach meinen Klassenkameraden gegangen wäre, hätte unsere sozialistische Gesellschaft nur aus Helden bestanden und aus Frauen, die ihnen die Haare schnitten, das Fieber maßen und sie mit Schokolade fütterten. Es wäre eigentlich keine schlechte Gesellschaft gewesen.
Drei Jahre lang besuchte uns der Direktor immer wieder mit seinem Tonbandgerät. Die Berufswünsche veränderten sich über die Zeit kaum: Bei den Mädchen kam noch eine Tänzerin hinzu, bei den Jungs ein Zugführer und ein Lastkraftwagenfahrer. Ich bin dann von der Schule abgegangen, und auch der Direktor kam nicht mehr in unsere Klasse. Entweder hatte es ihm gereicht, er hatte seine Doktorarbeit erfolgreich mit unserer Hilfe abgeschlossen und wollte von uns nichts mehr wissen, oder er hat die Sache einfach aufgegeben. Auf jeden Fall interessierte es niemanden mehr, wer von uns was werden wollte.
Die Jahre vergingen, nach der Schule hatten wir kaum noch Kontakt untereinander. Das Einzige, was ich von meinen ehemaligen Mitschülern noch mitbekam, war, dass kein Einziger von ihnen in der Realität seiner Leidenschaft gefolgt war, abgesehen von dem Armeeoffizier. Aber der hatte das wie erwähnt auch im Blut. Sein Vater und Großvater hätten ihn wahrscheinlich gelyncht, wenn er nicht auch Offizier geworden wäre. Alle anderen hatten sich für Berufe entschieden, von denen in der Schule nie die Rede gewesen war. Sie studierten Jura, Buchhaltung oder Maschinenbau. Ganz viele haben irgendetwas mit Transport studiert, weil sich das Transportinstitut ganz in der Nähe befand. Ich glaube, vielen war es nach der Schule egal, welchen Beruf sie letzten Endes ausübten, ihre Lebensträume waren davon völlig unabhängig. Also gingen sie mit ihren Freunden zusammen in ein Institut, um ihnen ein wenig Gesellschaft zu leisten, oder sie ließen sich von ihren Eltern überreden, etwas »Vernünftiges« zu lernen. Die Mädchen trauten sich nicht in die Schokoladenfabrik, die Jungs verzichteten auf den Kosmos, sie lernten lieber etwas »Vernünftiges«. Und kaum waren sie mit dem Studium fertig, da wechselte das politische System im
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