Onkel Wanja kommt
Sechs Tage hin und fünf zurück. Man muss schon gut Auto fahren können, um sich solche Strecken zuzutrauen. Wir kamen durch viele Länder: Serbien, Bulgarien, Griechenland, die Türkei. Zwischen den Landesgrenzen sind da fast immer ein paar Kilometer Niemandsland, besonders zwischen den Ländern, die Probleme miteinander haben. Es sind Pufferzonen, die diese Länder auf Abstand zueinander halten. Und überall in diesen Pufferzonen steckten Russen wie Sand im Getriebe. Wir haben viele gesehen, lauter Russen in Anzügen! Sie haben Probleme mit ihren Papieren und kommen nicht vorwärts und nicht zurück. Zwischen Syrien und der Türkei steckte zum Beispiel ein Syrer mit einer russischen Frau, die er ohne Papiere geheiratet hatte. Zwischen der Türkei und Bulgarien steckte umgekehrt ein russischer Mann mit einer Frau aus Montenegro. Überall haben sie da unterschiedliche Gesetze, und die Grenzer sind nicht immer freundlich.
Außerdem haben sie überall unterschiedliches Benzin. In manchen Ländern ist das Benzin sehr billig, aber es zieht nicht. Ich konnte bis zum Anschlag Gas geben, es passierte gar nichts. In Syrien wollte ich sogar mein Auto verkaufen, so frustriert war ich wegen des schlechten Benzins dort. Sie haben dort kein Superblei, überhaupt gibt es nur eine Sorte für alle Fahrzeuge, dabei lebt das Land vom Erdölverkauf. Mein Auto war in Syrien kaum zu gebrauchen. Mit einem Kamel wäre ich schneller vorwärtsgekommen. Aber zurück fuhren wir durch die Schweiz, dort war das Benzin zwar teuer, aber es zog richtig. Das Auto flog wie eine Rakete.«
Ich übersetzte meinem Onkel die syrische Geschichte. Russen im Niemandsland, was für ein rührendes Bild! Ich hätte beinahe schwören können, diese Menschen selbst gesehen zu haben. Sie steckten zwischen den europäischen Grenzen hinter frisch gestrichenen Schlagbäumen in der Sackgasse des Niemandslandes fest. Unrasiert und verschwiegen warteten sie auf Erlösung und trugen alle perfekt sitzende Anzüge.
Schade, dass Russen heute so einen merkwürdigen, sportlichen Eindruck hinterlassen. Früher machten sie einen mehr oder weniger geistreichen Eindruck. Der ganze Sinn des russischen Sozialismus war doch, den Geist der Menschen zu heben, ihn vor einer verpfuschten Karriere als Sklave des Kapitals zu retten und ihn in einen stolzen, gebildeten Retter der Menschheit umzuwandeln, von allen Macken und Minderwertigkeitskomplexen eines Unterdrückten befreit. Es schien gar nicht so unrealistisch. Aber der Mensch ist letzten Endes nur das, was er selbst aus sich macht. Und so haben die Russen sich nie groß um sich selbst gekümmert, sondern nur um die anderen. Die Selbstverwirklichung des sowjetischen Menschen, sein politisches Engagement und sein Befreiungskampf fanden ausschließlich jenseits der eigenen Heimat statt. Die eigene Lage wurde in der Regel nicht in Frage gestellt. Russen engagierten sich im Ausland und bekämpften die Ungerechtigkeiten überall auf der Welt, nur nicht bei sich zu Hause. Sie mischten sich ständig in fremde Konflikte ein, um die Freiheit ihnen völlig unbekannter Menschen und ganzer Völker zu schützen oder um irgendwo Gerechtigkeit für andere zu fordern, in Spanien, auf Kuba, in Äthiopien, in der arabischen Wüste, in Syrien, in Schwarzafrika, in Südamerika, in Vietnam usw. Nur in Sibirien nicht, wo die Hälfte der Bevölkerung in Lagern saß und die andere Hälfte sie bewachte. Dazu schwiegen sie. Wenn es aber darum ging, für die Freiheit von Angela Davis die Stimme zu erheben, für Luis Corvalán oder Fidel Castro, da waren sich alle einig. Das ganze Land stand wie ein Mann auf und forderte Freiheit für diese Menschen. Mit welcher Hingabe verteidigten die Menschen in der Sowjetunion damals die arme Jamila Buhreid, die sich auf die Gleise gelegt hatte, um Züge mit Soldaten zu stoppen, die nach Algerien geschickt wurden, um den dortigen Widerstand gegen die französische Besatzung zu ersticken. Unser eigener Widerstand blieb aus, unsere Freiheit war es, Freiheit für die anderen zu fordern. »Komm zu uns, Genosse Robeson, wenn du wie ein freier Mensch leben willst!«, sang ein bekannter sowjetischer Sänger, der zehn Jahre Lagerhaft hinter sich hatte. Er wandte sich damit an den linken schwarzen US -Sänger Paul Robeson, der sich im rassistischen Amerika sogar in der eigenen Villa noch unterdrückt fühlte.
Ein Leben für die anderen zu leben ist letztlich aber doch ein Zeichen von Intelligenz. In der neuen Weltordnung nun
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