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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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konnten sich viele Russen nicht mehr derart engagieren, weil sie nicht nur überintelligent, sondern für den Westen auch noch überqualifiziert waren. Sie hatten die beste kostenlose Ausbildung der Welt genossen, und die meisten brachten eine Doktorarbeit im Koffer mit. Mein Freund, der Friseur Valerij aus Kasachstan, kam als Deutschlehrer nach Deutschland, der Titel seiner Doktorarbeit lautete: »Die mentalen und kulturellen Unterschiede beim Erlernen der deutschen und kasachischen Sprache«. In seiner Heimatstadt Jambul lernte er sicherheitshalber auch noch Haare schneiden, bevor er nach Deutschland abreiste, für den Fall, dass er nicht als Lehrer arbeiten durfte. Das war eine richtige Entscheidung gewesen, denn als Lehrer war er für die deutschen Verhältnisse hoffnungslos überqualifiziert. Es hat dafür nicht lange gedauert, bis er zu einem begehrten Haarschneider aufstieg. Mein anderer Freund Sergej aus Weißrussland schrieb eine Doktorarbeit zum Thema »Die unvermeidlichen Fehler bei der Standortsuche deutscher und russischer Geschäftsleute unter besonderer Berücksichtigung der Standorttheorie von Alain Prate«. In Deutschland arbeitete er dann als Putzkraft auf einer großen Hühnerfarm.
    Die beiden Syrer, die wir kennenlernten, waren übrigens auch keine ausgebildeten Dönerverkäufer. Der eine war Jurist, und der andere hatte in seiner Heimat Medizin studiert, nur wurden ihre Diplome in Deutschland nicht anerkannt. Der jugoslawische Taxifahrer, ein Montenegriner, hatte sogar eine diplomatische Karriere hinter sich. Er hatte acht Jahre lang den jugoslawischen Konsul chauffiert. Dann begann der Krieg in Jugoslawien, und alle Teile des Landes zerstritten sich. Seine Mutter sagte am Telefon zu ihm, er solle bloß nicht nach Hause kommen, sie würden möglicherweise bombardiert werden. Also blieb er in Deutschland und fuhr seitdem Taxi. Auch der Konsul sei inzwischen Taxifahrer geworden, erzählte er uns lachend.
    »Und der Botschafter?«, hakte ich nach. »Fährt der Botschafter auch Taxi?«
    »Nein, der Botschafter hat ein Bauunternehmen in Westdeutschland«, erwiderte er. »Doch in Chicago, dort fährt der ehemalige jugoslawische Botschafter tatsächlich Taxi.« Das sei aber ein alter Hut und wäre bereits mehrmals in allen Zeitungen im ehemaligen Jugoslawien gestanden.
    »Was ist daran verkehrt? Er war kein guter Diplomat, vielleicht ist er in Chicago ein guter Taxifahrer geworden«, sagte der Jugoslawe achselzuckend.
    Als ich ihn fragte, ob er uns nach Hause fahren könne, bekam der Taxifahrer sofort schlechte Laune. Warum hätte ich ihm nicht früher gesagt, dass ich fahren möchte?
    Er hatte bestimmt gedacht, wir wären bloß ein bisschen mit dem Koffer spazieren gewesen und auf ein Bierchen ins Paradies eingekehrt. Jetzt hatte er schon drei Biere getrunken und konnte nicht mehr fahren. Das heißt, privat würde er schon fahren, aber nicht dienstlich, das Risiko sei zu groß, die Konzession zu verlieren. Doch um fünf komme sein Schichtwechsel ins »Paradies«:
    »Er fährt euch gerne, wohin du willst«, versicherte der Jugoslawe. »Wo willst du überhaupt hin?«
    Ich erklärte ihm, dass ich am Mauerpark wohne, genau an der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West.
    »Ich verstehe euch Russen nicht«, schüttelte der Taxifahrer den Kopf. »Warum wollt ihr immer Taxi fahren. Das ist eine solche Geldverschwendung. Dein Mauerpark ist doch nur zwanzig Minuten Fußweg von hier entfernt!«
    Eigentlich hatte er Recht, es lohnte sich wirklich nicht zu fahren. Selbst wenn wir langsam wie zwei Schildkröten auf der Invalidenstraße weitergehen würden, wären wir spätestens in einer Dreiviertelstunde zu Hause. Gleichzeitig konnte ich dem Onkel ein Stück Berlin zeigen – vielleicht nicht das hübscheste Stück, aber trotzdem schön. Wir berieten uns kurz und beschlossen, weiter zu Fuß zu gehen. Vorher aber äußerte mein Onkel den Wunsch, sich etwas zu stärken, und wir bestellten bei den Syrern ein orientalisches Huhn. Ich hatte keinen Hunger.
    Während der Onkel aß, betrachtete ich den Flipperautomaten an der Wand. Man sieht kaum noch solche alten Modelle, die nicht bloß Zahlen drehen und Geld schlucken oder ausspucken, sondern tatsächlich mit einem spielen, Schnelligkeit und Reaktion erfordern. Ein großes Lob den Syrern, dass sie sich für einen Flipper entschieden hatten. Gut, heute gehören Abenteuerspiele in den Computer zu Hause, nicht in einen Imbiss. Dort lernt die heranwachsende Generation am

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