Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
Vom Netzwerk:
grüßten nicht, wir grüßten nicht zurück. Eine Pause breitete sich aus.
    »Seid ihr Russen?«, brach ein schnurrbärtiger Erzen gel das müßige Schweigen.
    Ich habe keine Ahnung, wie er uns so schnell entlarven konnte. Mein Onkel und ich, wir waren nicht in traditioneller russischer Tracht, sondern beide korrekt westlich bekleidet. Wir hatten, wenn überhaupt, unterwegs sehr leise miteinander gesprochen, nicht mit Wodkaflaschen gewunken und weder Matroschkas noch Balalaikas in den Händen. Trotzdem hatten die Erzengel uns sofort als Russen identifiziert. Vielleicht ist es diese eingeborene Grimmigkeit, die Unwilligkeit, Fremde fröhlich als Erster zu begrüßen?
    Von allen Klischees, die auf der Welt über Russen verbreitet werden, hält sich die angebliche russische Grimmigkeit am hartnäckigsten. Ständig muss ich mir von Bekannten und Unbekannten, die gerade zum ersten Mal Russland besucht haben, anhören, wie hölzern die Umgangsformen dort sind. Angeblich grüßen Russen nie. Ich kann das nicht bestätigen. Russen grüßen sehr wohl. Früher haben sie etwas dezent aus dem Hinterhalt gegrüßt. Inzwischen erobert die übertriebene westliche Höflichkeit die russischen Gemüter. Als ich neulich in Moskau war, konnte ich mich vor grüßenden Russen kaum retten. Unbekannte grüßten mich in Geschäften, in Hotels, manchmal sogar auf der Straße. Selbst die Polizisten, die mich stets völlig grundlos anhielten, um ihrem unstillbaren Hang zur Korruption nachzugeben, grüßten plötzlich ausgiebig und wünschten mir einen guten Tag, bevor sie Geld und Ausweis verlangten. Die jungen Frauen hinter den Verkaufstresen schauten nicht mehr wie früher zu Boden oder zur Decke, sondern dem Kunden direkt ins Gesicht und lächelten dabei so fröhlich, als hätten sie darin etwas ganz Tolles erblickt.
    Das hat zweifellos damit zu tun, dass eine bestimmte Art von Literatur, nämlich Sachbücher aus Amerika, die Glück und Erfolg versprechen, in Russland großen Absatz finden. Genau wie Amerikaner neigen Russen zu einfachen Lösungen für komplexe Probleme und können auch die notwendige Naivität aufbringen, die sie im Glauben lässt, alles auf der Welt sei nur eine Frage der inneren Einstellung. Bücher mit Titeln wie Die Formel des Erfolgs , Richtig atmen – länger leben und vor allem der Bestseller Das Geheimnis meines Aufstiegs von einem Kerl namens Carnegie versichern dem Leser, all seine Probleme seien mit einem Dauergrinsen zu lösen.
    Ich persönlich glaube, dass die meisten amerikanischen Autoren, die in Russland gelesen werden, nur auf dem Papier existieren. Ein Großteil der ausländischen Literatur wird in Russland grundsätzlich von Studenten und freischaffenden Journalisten geschrieben. Diese Werke knüpfen an den alten Aberglauben an, alles Ausländische sei Qualitätsware und auf jeden Fall besser als die einheimischen Produkte. Dieser Aberglaube hält sich noch immer hartnäckig, trotz McDonalds und anderer Enttäuschungen, die die kapitalistische Warenwelt bisher mit sich gebracht haben. Also wird in Russland eine umfangreiche ausländische Literatur produziert, wodurch man die einheimischen Arbeitskräfte wieder einbindet, statt das Geld für den sinnlosen Erwerb von Lizenzen und Nebenrechten zu verpulvern. Die Produktion wird marktgerecht verteilt. Frankreich steht für Liebesromane, England für Krimis, Amerika für Sachbücher über den Erfolg.
    Auch vor bekannten Namen machen die Verleger in Russland nicht halt, was zur Folge hat, dass in russischer Sprache deutlich mehr Krimis von Agatha Christie existieren, als sie auf Englisch geschrieben hat, und der Herr der Ringe statt drei sieben Teile besitzt. Außerdem darf sich nach russischem Recht jeder Schriftsteller den Namen eines anderen Schriftstellers als Künstlernamen zulegen und kann sich Dostojewski-Tolstoi oder Goethe-Faust nennen. Solche und andere Tricks gelten auf dem neuen kapitalistischen Buchmarkt als legitim. Es geht darum, die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen – wie, ist egal. Viele bekannte Autoren veröffentlichen in Russland Jahr für Jahr das gleiche Buch, bloß unter anderem Titel und mit einem anderen Bild auf dem Umschlag.
    Trotz dieser miesen Tricks bleiben die Russen dem Lesen treu, sie glauben an das gedruckte Wort. Schriftliches hat in Russland Autorität, nur Gedrucktes ist wahr. So, wie man früher an die sozialistischen Schriften geglaubt hat, hält man nun die kapitalistischen Strategien des Erfolgs für wahr und

Weitere Kostenlose Bücher