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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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gibt?«
    Tatsächlich sah die Speisekarte vom Döner-Paradies nicht besonders vielfältig aus.
    »Wir hätten doch gleich am ersten Tag alle Döner runtergemetzelt und wären schnell verhungert«, sagte ich.
    »Du siehst die Sache durch eine schwarze Brille«, meinte mein Onkel. »Erst einmal hätten wir noch immer einen Kühlschrank voll mit Bier. Und zweitens muss man im Paradies nicht ständig essen. Du verwechselst das Paradies mit einem Restaurant. Es wurde nicht zum Essen erschaffen, sondern um darin seine Seelenruhe zu finden.«
    »Ich kann aber keine Seelenruhe finden, wenn ich längere Zeit nichts zu essen bekomme«, entgegnete ich.
    Der Onkel überlegte. Ja, sagte er, dieses Gefühl sei auch ihm nicht fremd. Er wisse genau, was ich meine. Auch er hätte oft Hunger, meistens am frühen Morgen, so wie jetzt, dann könne er alles aufessen. Und abends überkomme es ihn noch einmal, aber nie tagsüber. Doch im Paradies, also nicht im Döner-, sondern im richtigen Paradies, so glaube er, werden wir, sollten wir überhaupt jemals dorthin gelangen, niemals mehr Hunger bekommen. Außerdem wissen wir längst, wohin es führt, das Essen im Paradies.
    »Es ist schon einmal schiefgegangen, ich würde es nicht noch einmal darauf ankommen lassen«, sagte mein Onkel mit so ernster Stimme, dass ich auflachte. Mein Onkel, der nichts, kein einziges Abenteuer in seinem Leben ausgelassen hatte, warnte vor dem Essen im Paradies!
    »Was ist eigentlich mit dem Baum passiert, nachdem die Menschen aus dem Paradies vertrieben waren?«, fragte er mich. »Ist der eigentlich im Paradies stehengeblieben, oder hat der Schöpfer ihn im Zorn in einen Pfahl verwandelt?«
    Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich wusste nicht genau, was mit dem Baum passiert war. Einmal hatte ich gelesen, die unerlaubte Frucht, der sogenannte Döner der Erkenntnis, würde noch immer im Menschen stecken, und nur wenn alle ihren Bissen gleichzeitig und zusammen erbrechen würden, hätten die Menschen eine Chance, ins Paradies zurückzukehren. In einem anderen Buch stand, die Bäume wären ebenso wie die Menschen aus dem Paradies vertrieben worden, sie würden aber besser als die Menschen zusammenhalten und stramm gen Himmel wachsen. Ihre Kronen würden sich wie Wurzeln nach allen Seiten ausdehnen, um sich am Himmel festzumachen. Die unteren Wurzeln hielten sich in der Erde fest. Bäume sind die einzige Brücke zwischen Erde und Himmel. Aber auch die höchsten von ihnen schaffen es nicht, bis ins Paradies zu wachsen, weil ihr Schicksal für immer mit dem des Menschen verbunden ist. Und Menschen graben sich lieber ein, als dass sie hochklettern. Sie schauen lieber nach unten als nach oben.
    Es war Pech für die Menschen, dass sie damals ausgerechnet diese verfluchte Erkenntnisfrucht vom Baum naschten. Laut Legende wuchsen auf dem Baum nämlich ganz verschiedene Früchte: die Frucht der Geburt, die Frucht der Suche und des Zweifels, die Frucht des Verstehens und die Frucht des auf-die-Nase-Fallens. All diese Früchte sollte der Mensch als Metapher für seinen Lebensweg nach und nach zu sich nehmen, um später dann, am Ende des Weges, die süßeste, die Frucht der Erkenntnis zu genießen. Doch ungeduldig wie ein Kleinkind griff der erste Mensch gleich nach der Abschlussfrucht. Er wollte Antworten haben, ohne überhaupt die Fragen zu kennen.
    Gut, ich gebe zu, es war vielleicht doch alles von Anfang an etwas zu dramatisch konstruiert, etwas zu kompliziert aufgebaut. Der Schöpfer hätte sicher eine einfachere Welt schaffen können, mit nur einer Raupe und einem Schmetterling, nur einer Frage und einer Antwort, ohne den ganzen Schnickschnack drum herum. Aber er wollte es eben so kompliziert. Diese Welt war gedacht als eine der Fragen, in der alle Zeichen und Sinneseindrücke ihre Bedeutung je nach Situation ändern, eine Welt, in der es nicht darum ging, zu gewinnen oder geradeaus zu gehen. Die Antworten auf manche von diesen Fragen änderten sich mit der Zeit. Auf manche andere konnte und kann es gar keine Antworten geben. Die Menschen suchen aber nach wie vor nur nach Antworten, statt nach den Fragen zu fragen. Auch ihre alten Bücher lesen sie, als wären es von fremder Hand gelöste Kreuzworträtsel, in die alle Wörter eingetragen sind, aber ihre Bedeutung unklar ist, weil die Seite mit den Fragen herausgerissen wurde. Wir können diese Antworten nicht verstehen, nur auswendig lernen: wann, wohin und was ist es wert. Wir lernen, dass es gut für die Gesundheit ist,

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