Onkel Wanja kommt
Andrej, wurden orthodoxe Christen. Ihr Papa, ein ehemaliger Major, der beruflich und auch privat bestimmt viel gesündigt hatte, ließ sich einen Bart wachsen, aber vorsichtshalber erst einmal noch nicht taufen. Eigentlich, so erzählte er meinem Vater in einem Anfall von Aufrichtigkeit, sollte man sich als orthodoxer Christ so spät wie möglich taufen lassen, am besten kurz vor dem Tod. Nach christlichem Glauben bist du ohne Taufe für Gott nicht sichtbar, jedenfalls nicht als Christ, deine Sünden können dich erst nach der Taufe belasten. Und umgekehrt zählt alles, was einer vor der Taufe falsch gemacht hat, danach nicht mehr. Dieser Logik folgend träumte der Major quasi von einer Fortsetzung seiner Karriere im Himmel. Sein Ziel war es, sich auf dem Sterbebett taufen zu lassen und als reines Christenkind gen Himmel zu fahren. Es konnte eigentlich nichts schiefgehen, er hatte sein religiöses Konzept gründlich durchdacht. Es hatte nur eine Schwachstelle: das Risiko eines plötzlichen Todes wie bei seinem jüngsten Sohn, der sogar ein Warntelegramm aus der Hölle geschickt hatte. Ein plötzlicher Tod – was konnte man dagegen tun? Ein Auto, das zu schnell um die Ecke fuhr, ein Stein, der vom Dach fiel – solche zwar nicht zu erwartenden, aber theoretisch durchaus möglichen Unfälle vergifteten den Glauben des Majors und zwangen ihn, ständig nervös um sich zu schauen. Er benahm sich äußerst vorsichtig, ging langsam und konzentriert über die Straße und blieb nach 18.00 Uhr grundsätzlich zu Hause.
Sein Sohn, der inzwischen die Arbeit im Energieministerium verloren hatte, teilte die Überzeugungen seines Vaters nicht, er war Buddhist. Nicht irgendein Sektenmitglied oder Krischna-Anhänger, wie sie damals an vielen Ecken Moskaus auftauchten, mit kahlrasierten Köpfen und bunten Gewändern durch die Straßen zogen und dabei laut ihr eintöniges Loblied auf Krischna sangen. Der Sohn des Majors war ein ganz normaler, ein traditioneller Buddhist auf dem Weg zur Erleuchtung. Auf diesem Wege musste er sich von Stress sowie allen Leiden, Gelüsten und Verwirrungen befreien. Eine höllisch komplizierte Arbeit, die die gesamte Zeit eines Mannes in Anspruch nahm. Es traf sich, dass der Sohn des Majors keine Arbeit und keine Freundin mehr hatte.
Über den Buddhismus hatte ihn ein Freund aufgeklärt. Der ganze Stress im Leben komme daher, dass man sich, genauer gesagt seinen Geist, stets für oder gegen etwas aufputsche, mal durch eine kritische Sicht auf das Geschehen, mal durch Wünsche und Träume, Zwänge und Verbindlichkeiten. Beides mache den Menschen dumm, es verneble seinen Geist. Dagegen halfen nur zwei Dinge: Meditation im Sitzen und monotone physische Arbeit an der frischen Luft. Holz hacken sei zum Beispiel sehr gut für die Erleuchtung, ebenso das Umgraben der Erde. Solche Möglichkeiten zur geistigen Stärkung hatte der Sohn des Majors nicht, wir lebten in einer Großstadt in einem Haus mit Zentralheizung. Es gab dort kein Holz zu spalten und nichts zu pflügen. Als Alternative strickte der Sohn des Majors auf dem Balkon, in der Erwartung, beim Stricken irgendwann einmal die endgültige Erleuchtung, die ewige Ruhe zu erreichen, wo ihm dann nichts, aber auch gar nichts mehr etwas anhaben konnte.
Sein Vater mochte dieses erwartungsvolle Stricken nicht, er glaubte, mit seinem Sohn stimme etwas nicht. Dasselbe dachte der Sohn über seinen Vater. Die ebenfalls streng gläubige Mutter hielt strikte Neutralität. Die Männer besprachen ihre Probleme jedoch nie miteinander, sondern nur mit uns, mit mir und meinem Vater, sodass wir bestens im Bilde waren über die geistig religiöse Entwicklung unserer Nachbarn. Die beiden lebten in einer Art religiöser Gemeinschaft zusammen – der Vater als nicht getaufter Christ, der Sohn als strickender Buddhist. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Ich habe gehört, der Vater sei inzwischen im Himmel und bestimmt General, der Sohn arbeite bei Gazprom in der Buchhaltung.
In Russland habe ich in all den Jahren nur einmal eine Kirche besucht. Die Kirchen fielen im Straßenbild Moskaus nicht besonders auf, aber ich kannte eine neben der Metrostation Sokol in der Nähe meiner Theaterschule. Es war eine kleine, in sich zusammengeschrumpfte Kirche, eingeengt zwischen großen pathetischen Wohnhäusern, mit bettelnden alten Frauen in schwarzen Gewändern, die immer auf der Treppe vor dem Kircheneingang saßen und Unverständliches murmelten. Die Kirche sah merkwürdig traurig aus,
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