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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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übernehmen die Verantwortung. Jesus hat auch Partys gemacht. Jawohl! Er hat die Händler aus der Kirche vertrieben und Partys veranstaltet.«
    »Aber ich bin nicht Jesus«, erwiderte ich.
    Die Veranstaltung kam mir so vor, als würde eine Veganer-Kantine einen Sonntagsschweinebraten anbieten, um mehr Kundschaft zu haben. Die schmale Grenze kirchlicher Toleranz verlief irgendwo zwischen Wein und Schnaps, zwischen Russendisko und Gruftifestival. Ich versuchte damals in Hannover, Sanfteres aufzulegen – Folk, Reggae, Balladen. Das Publikum reagierte unterschiedlich: Einige gingen sofort, andere standen stramm in einer Ecke im Kerzenlicht, ein paar sprangen wie wild auf der Kirchentanzfläche herum. Die Pfarrerin und Torsten waren gut drauf, sie strahlten. Drei russische Mädchen blitzten mit ihren Fotoapparaten in der Dunkelheit. Von ganz oben, so schien mir, aus der hohen Kuppel der Kirche, kamen wohlwollende Signale, dass jedem verziehen werde, über jeden gelacht und geweint und getrauert werde, und mehr brauche es nicht. Es war an diesem Abend eine funktionierende Kirche, denke ich. Doch wie unterscheidet man eine funktionierende von einer Museumskirche? In Köln hat die Stadt viele leerstehende Kirchen Ausländern angeboten, Kroaten, Polen, Bulgaren und anderen Ankömmlingen aus christlichen Ländern. Sie mussten sich um die Kirche kümmern und bekamen dafür das Recht, dort einmal in der Woche einen Gottesdienst in der Sprache ihres Heimatlandes abzuhalten. Im Handumdrehen wurden aus diesen Kirchen kleine Ghettos, wo sich Menschen einer Tradition, einer Sprache, eines Landes zusammenfanden.
    Ich habe als Kind und später als Jugendlicher an dieser Religionsproblematik völlig vorbeigelebt. Mir fehlte jede Art religiöse Erziehung, und ich fange an zu stottern, wenn ich nach Judentum, Christentum oder irgendeinem anderen -tum gefragt werde. Meine Eltern waren nicht einmal Atheisten. Sie waren immer zu beschäftigt gewesen mit den alltäglichen Problemen des Seins und hatten daher keine Zeit gehabt, sich groß mit Fragen des Bewusstseins zu beschäftigen. Dafür haben sie ohne Depressionen, glücklich und ahnungslos vor sich hin gelebt.
    Unsere Moskauer Nachbarn, die Familie Morsin, waren dagegen sehr religiös. Sie hatten zwei Söhne, Andrej und Alexander. Andrej starb bei einem selbstverschuldeten Autounfall, er war betrunken gewesen, Alexander arbeitete im Energieministerium. Einmal fuhr er nach Afghanistan, um der damaligen kommunistischen Führung des Landes beim Aufbau einer Starkstromanlage zu helfen. Alexander hatte aber vergessen, seine Eltern über das genaue Datum seiner Abreise zu informieren. Eines Tages bekam seine Mutter ein Telegramm: »Bin endlich angekommen, ist furchtbar heiß hier. A. Morsin.« Die Mutter dachte wahrscheinlich, ihr verstorbener Sohn hätte sich aus der Hölle gemeldet, und bekam eine echte Krise. Seitdem ist die Familie gläubig.
    Meine Eltern kannten sich mit den Weltreligionen nicht aus, aber sie waren nicht ungläubig, im Gegenteil, sie glaubten an alles. Sie glaubten, dass man gegen den sowjetischen Staat im Lotto gewinnen könne. Sie glaubten an die heilende Wirkung von Vogelbeerschnaps, mein Vater machte selbst welchen. Zeitweise glaubten sie sogar an eine strahlende Zukunft im Sozialismus. Und sie glaubten jede meiner Geschichten, die ich aus der Schule mitbrachte, ganz egal, was ich erzählte. Heute würde ich sagen, meine Eltern waren schwer leichtgläubig. Nur in Religionsfragen zeigten sie eine seltsame Zurückhaltung und hegten großes Misstrauen jeder Art Erleuchtung oder Erlösung gegenüber. Selbst die vage Möglichkeit der Existenz eines oder mehrerer Götter gaben sie nur unwillig zu. Ein Leben nach dem Tod lehnten sie kategorisch ab.
    Gemäß der russischen Religionsentwicklung, die sich wie eine Achterbahn bergauf und bergab bewegte, erwischten wir in den Neunzigerjahren eine Phase religiöser Wiedergeburt. Das Ideal einer gerechten menschlichen Gesellschaft wurde erst einmal begraben, und viele ehemalige Kommunisten gingen in die Kirche. Die Menschen suchten mehr oder weniger verzweifelt nach einem geistigen Halt, und alle fanden irgendetwas, nur meine Eltern nicht. In den Neunzigerjahren blühten in Russland hunderte von Religionen auf, die bekanntesten waren das Christentum für die Älteren und der Buddhismus für die Jüngeren. Manchmal trafen sich beide Religionen in einer Familie.
    Unsere Moskauer Nachbarn, die Eltern von Alexander und dem verstorbenen

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