Onkel Wanja kommt
danken. Ein solches Fest braucht Kraft, es dauert den ganzen Tag. Abends sitzen sie dann in ihren Kneipen, tauschen Küsschen, trinken Wein und bemitleiden die Touristen, die es immer so schwer haben, sogar hier im Paradies.
An der Kirche
Wir waren nah am Ziel. Vielleicht ein, höchstens zwei Kilometer noch, den Weg gut vor Augen – immer geradeaus die Invalidenstraße entlang bis zum Ende der Straße, dann in die Brunnenstraße rechts, nein, lieber links einbiegen, bis zur Bernauerstraße oder besser noch weiter zu uns von West nach Ost, über den unsichtbaren Stacheldraht der Geschichte, an allen Sehenswürdigkeiten und Touristenattraktionen entlang, die von der vergangenen Stadtteilung übrig geblieben waren, vorbei an der Mauerbar, am Mauerrestaurant, am Mauermuseum und am Mauersouvenirkiosk, dann über den Mauerstreifen, den Mauerflohmarkt und den Mauerpark, und gleich dahinter wären wir schon bei mir zu Hause.
Mein Onkel ging langsam, er atmete schwer. Kaum hatte ich in meinen Erzählungen etwas ausgeholt und war ein wenig schneller gegangen, kuckte er reichlich mitgenommen, und sein Gesicht färbte sich rot.
»Halt mal an, warte, lauf nicht so schnell!«, bat er. »Ich habe mir das Ausland viel gemütlicher vorgestellt. Ich möchte nicht als Invalide auf der Invalidenstraße enden. Was ist das überhaupt für eine finstere Gegend?«
Keine Ahnung, wieso er die Invalidenstraße so finster fand. Wahrscheinlich wegen der vielen traurigen Einrichtungen, die uns an die Endlichkeit des Daseins, an Tod und Verwesung erinnerten. Wir gingen an einem großen Altersheim vorbei, an einem Krankenhaus, an mehreren Apotheken, an einem Bestattungsunternehmen, einer Kirche mit dazugehörigem kleinem Friedhof, und davor waren wir an einem größeren Friedhof vorbeigekommen.
»Ist das eine christliche Kirche?«, fragte mein Onkel interessiert. »Ist sie evangelisch oder katholisch?«
Ich bin hundertmal an dieser schönen kleinen Kirche am Nordbahnhof vorbeigelaufen, konnte aber seine Frage nicht eindeutig beantworten. Ich kann Kirchen schwer unterscheiden. An dieser stand zum Beispiel, sie sei die Kirche der heiligen Elisabeth, einer Katholikin also, die Invaliden geholfen, viel Leid erfahren und einen frühen Tod gefunden hatte. Aber die Kirche sah bescheiden, verlassen und einsam, also irgendwie sehr evangelisch aus. Ich wusste nicht einmal, ob das eine funktionierende oder eine Museumskirche war. In vielen Kirchen wird heutzutage ein Kulturprogramm geboten, Punkbands dürfen dort auftreten, Künstler ihre Werke ausstellen. Moderne Priester unterstützen jede Art von Glauben. Sie umwerben den wenig Gläubigen, den an etwas anderes Gläubigen, und sogar den gläubigen Ungläubigen gegenüber sind sie tolerant geworden. Sie tun alles, Hauptsache, die Kirche steht nicht leer.
Ich bekomme ebenfalls oft Einladungen, in Kirchen aufzutreten, zu lesen oder gar eine Russendisko auf dem Altar zu veranstalten. Ich habe einige Male zugesagt und fühlte mich unwohl dabei, ich schämte mich. Vor allem des Publikums wegen. Wenn sich schon jemand entscheidet, in die Kirche zu gehen, so dachte ich, dann will er dort wahrscheinlich Gott nahe sein oder dem Priester, aber ganz sicher nicht der Russendisko. Solche Bedenken kamen mir zuletzt in Hannover, in der ehemaligen Luther-, jetzt Jugendkirche, wo ich sie meinen Gastgebern gegenüber zur Sprache brachte.
»Wir wollen die Kirche für alles, was Leben ist, öffnen. Hier drin soll es wie da draußen sein«, meinte die Pfarrerin. Und ein junger Theologe, der Torsten hieß, wie ich seinem Namensschild entnehmen konnte, nickte zustimmend. Sie hatten deswegen neben Früchtetee auch Alkohol im Angebot. Alkohol sei eine salonfähige Droge geworden, also auch ein Stück Leben, behaupteten sie. Von Gewissensbissen geplagt verlangte ich sofort nach einem Schnaps. Die Pfarrerin hatte aber nur Bier und Wein hinter dem Kirchentresen, Schnaps war anscheinend doch nicht salonfähig genug. Der junge Theologe brachte mir aus dem Kiosk nebenan eine große Flasche Weinbrand. Die Kirche füllte sich langsam mit Publikum, wir gingen mit der Pfarrerin und Torsten vor die Tür, um eine zu rauchen.
»So viele Menschen hatten wir schon seit langem nicht mehr hier«, freuten sich meine Gastgeber. Trotz des Weinbrands hatte ich immer noch Skrupel.
»Ist es richtig, im Gotteshaus zu tanzen«, murmelte ich unentschlossen.
»Hey, machen Sie sich da mal keine Sorgen«, mischte sich der junge Theologe ein. »Wir
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