Onkel Wanja kommt
wie der Vorraum eines Friedhofs, ein Überbleibsel aus dunkler Vergangenheit, ein Tor in eine andere Welt.
Dort, wo das berühmte Schwimmbad Moskau neben der Metrostation Kropotkinskaja stand – benannt zu Ehren des Überväterchens der russischen Anarchie –, war zuvor ebenfalls eine Kirche gewesen. Wir fuhren mit der Schule zum Schwimmunterricht dorthin. Das Bad war die größte öffentliche Badeanstalt Russlands unter freiem Himmel und wurde an die Stelle einer großen Kirche gebaut, die nach der Revolution von den Bolschewiken gesprengt worden war. Alle Kinder Moskaus schwammen dort. Sogar meine Eltern gingen manchmal am Wochenende in dieses Schwimmbad, obwohl wir, weit vom Zentrum entfernt, drei Bushaltestellen von der letzten Metrostation am Rande der Stadt wohnten.
Hundert Meter hinter unserem Haus lag der Moskauer Ring, eine Art Autobahn, die unsere Stadt umrundete. Auf der anderen Seite des Rings befand sich eine Hühnerfarm und ein kleines halbleeres Dörfchen namens Krilatskoe (»Geflügeltes« auf Deutsch). Die letzten Bewohner dieses Dorfes waren auf der Hühnerfarm beschäftigt und hielten auch in ihren Höfen Hühner, sodass dort ständig Federn durch die Luft flogen. Vielleicht hat das Dorf deswegen seinen Namen bekommen. Die Häuser standen auf malerischen Hügeln, »Geflügelte Berge« genannt, und jeder im Bezirk wusste, dass das Dorf nicht mehr lange Bestand haben würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man es abreißen würde. Moskau wuchs schon damals langsam, aber unaufhaltsam. Die Stadt vergrößerte sich wie ein Tintenfleck in alle Richtungen. Heute liegt diese Gegend schon beinahe im Zentrum, aber damals fühlten wir uns wie Aborigines – mit der Natur noch quasi vereint. Als Kinder gingen wir immer auf die andere Seite des Rings in »Geflügeltes« zum Spielen, im Sommer mit unseren Fahrrädern, im Winter auf Skiern, um von den Hügeln runterzufahren. Später, als Jugendliche, sind wir zum Biertrinken dort hingegangen. Man kann sagen, Geflügeltes war unsere Schweiz. Die wenigen Bewohner des Dorfes freuten sich über uns Jugendliche und haben nie versucht, uns zu verscheuchen.
Die Hauptattraktion des Dorfes waren jedoch nicht der steile Berg in der Mitte und nicht die freundlichen Einwohner, sondern die Ruine der sogenannten »Geflügelten Kirche«, die unten im Tal zwischen den Hügeln stand. Es war eine im Krieg zerstörte Kirche, die in zwei Hälften zerfallen war, als hätte sie jemand mit einem Messer diagonal von rechts nach links aufgeschnitten. Der Legende nach war sie vor langer Zeit zu Ehren des Sieges über Napoleon gebaut und nach der Revolution an eine Kolchose abgegeben worden, die sie als Kartoffellager benutzte. Während des Krieges flog ein Flugzeug in die Kirche, es brannte aus, explodierte aber nicht. Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg hing das abgebrannte Heck dieses Flugzeuges noch immer aus der Ruine, ich habe es auf Fotos meines Vaters gesehen. Ob es ein deutsches oder ein russisches Flugzeug war, darüber stritten sich die Geister im Dorf. Die einen meinten, es wäre ein deutscher Kampfjäger gewesen, der von unserer Flugabwehr vom Himmel geholt worden war. Die anderen behaupteten, dass es ein sowjetischer Abfangjäger gewesen sei, dem während des Fluges der Treibstoff ausgegangen war.
Die Ruine der Geflügelten Kirche zog Menschen aller Altersgruppen an. Kinder liefen dorthin, um Versteck zu spielen, und für Jugendliche war sie ein begehrter Lagerfeuerplatz. Einsame junge Männer, von Liebeskummer und Portwein getrieben, Pärchen auf der Suche nach einem lauschigen Plätzchen – alle fanden in der Ruine der Geflügelten Kirche Asyl. Die ältere Generation stand an Sonn- und Feiertagen sogar Schlange hinter der Ruine. Direkt hinter der Ruine sprudelte nämlich ein Bach aus der Erde, mit angeblich sehr wohlschmeckendem Wasser. Man munkelte, es heile obendrein Magen- und andere Geschwüre. Die Großmütter aus unserem Bezirk und den umliegenden Dörfern fuhren extra mit leeren Plastikflaschen, Blechkannen und Eimern hierher. Manche verfielen dabei einem regelrechten Wasserwahn, und ich habe dort Frauen gesehen, die den ganzen Sonntag neben der Quelle saßen und ihre Füße in Töpfen mit dem Wasser badeten. Meine Eltern, auch sonst ziemlich abergläubisch, waren eine Zeit lang ebenfalls diesem Wasserwahn verfallen. Jeden Sonntag joggte mein Vater mit einem Kanister zur Quelle und zurück. Wir haben damals viel von diesem heiligen Wasser getrunken, es
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